Précis: Treitler, Neumen, Semiotik
Da ich in meiner Magisterarbeit Ähnliches vorhabe, hatte ich seit einigen Tagen musikwissenschaftliche Artikel gesucht, die sich mit Musiknotation aus semiotischer Sichtweise befassen. Abgesehen von Leo Treitlers „The Early History of Music Writing in the West“ bin ich nicht fündig geworden. Eero Tarasti, einer der wenigen Semiotiker unter den Musikologen, befaßt sich eher mit semantischen, denn mit graphemischen Fragen. Darüber hinaus scheint mir die Semiotik in meinem Fach nicht vertreten zu sein. Umso wichtiger war es mir, Treitlers Aufsatz auch methodologisch zu verstehen – zumal er die Anfänge der weströmischen Musiknotation (Neumen, ca. 900 – 1200) fokussiert, was auch für meine Arbeit nicht ganz uninteressant sein dürfte. Daher fasse ich seine Ausführungen nun in einem (etwas längeren) Blogartikel zusammen.
(Wem das zu lang ist, der kann auch die Zusammenfassung von der Zusammenfassung ganz am Ende lesen.)
Abbildung: Neumen
Diese Abbildung stammt nicht aus dem Artikel von Leo Treitler. Sie stammt aus dem Band „Musikgeschichte in Bildern“ von Bruno Stäblein, ist hier lediglich der Anschaulichkeit halber eingefügt und wurde von mir für diesen Zweck bearbeitet. Zu sehen sind oberitalienische Neumen aus Asti über zwei Versen aus dem Responsorium „Rogarus te domine“. Die Zweite Zeile, „domine“, beginnt mit der Folge Virga, Pes, Punctum und zeigt eine, nach Treitlers Klassifikation, symbolische Schrift. Die Handschrift 525 der Bibliothèque Mazarine stammt aus dem 10. Jahrhundert.
Précis: The Early History of Music Writing in the West
Quelle: Treitler, Leo: „The Early History of Music Writing in the West“, Journal of the American Musicological Society, Vol. 35, No. 2 (Summer 1982), pp. 237 – 279
Angeregt von den jüngsten (das war 1982!) Erkenntnissen der Forschung, dass der Gregorianische Choral eine mündliche Tradition hatte, lange bevor man anfing, ihn schriftlich zu fixieren, stellt sich Treitler die Frage, wie diese frühe Musiknotation wohl funktioniert hat. Bevor Musiknotation Teil von Komposition, Überlieferung und Lektüre wurde, war sie schriftliche Repräsentanz einer oralen Aufführungspraxis. Vor diesem Hintergrund müsse sich deren Untersuchung von einem paläographischen hin zu einem semiotischen Fokus verschieben. Während sich die Paläographie mit der Klassifizierung von Notationen und der Identifikation von deren Gebrauchsort und -zeit befaßt, beschäftigt sich die Semiotik mit den funktionalen Beziehungen der Zeichensysteme, den Bedeutungen der Zeichen und den Situationen der Personen, denen sie etwas bedeuten. Auf diesem Gebiet habe, im Gegensatz zur Paläographie, bisher keine Forschung stattgefunden. Treitler macht mit seinem Aufsatz über die Geschichte der frühen, weströmischen Musiknotation einen Anfang.
Er teilt ihn in sieben Sinnabschnitte ein, in denen er sich Schritt für Schritt dem Problem einer Neuklassifizierung der Neumenfamilien auf Grundlage semiotischer Kriterien und der Frage nach deren historischer und kultureller Signifikanz widmet. (Die Überschriften zu den einzelnen Abschnitten stammen von mir und sollen die jeweilige Thematik des Abschnitts kurz zusammenfassen.) Er verwirft die hergebrachte Einteilung in Punkt- und Akzentneumen und widerspricht der Theorie, dass Punctum und Virga von den griechischen accentus acutus und accentus gravis herstammen.
1. Semiotik und Musiknotation
Der erste Abschnitt widmet sich einer knappen Einführung in die Semiotik anhand unserer modernen Musiknotation. Treitler weist auf den Umstand hin, dass unsere moderne Notation eine Metapher, oder besser gesagt eine visuelle Analogie, für das Fortschreiten von Tonhöhen in Zeit ist. Das Notensystem ist in vertikaler Ausrichtung eine Repräsentanz für die Tonhöhe, in horizontaler eine für die Zeit. Der us-amerikanische Philosoph Charles Sanders Peirce unterschied Zeichen (wie z.B. Musiknoten) nach der Art (oder den Modi) ihrer Repräsentanz, er teilte sie ein in Symbole, Ikonen und Indizes. Ein Symbol ist ein Zeichen, welches zwischen seiner Form und seinem Referenten aufgrund einer habituellen Assoziation vermittelt. Nichts an dem Zeichen muß Ähnlichkeit mit seinem Referenten haben oder sonstig mit ihm in natürlicher Verbindung stehen. Wenn wir wissen, dass die horizontale Achse in unserem Notensystem für den Verlauf der Zeit steht, dann ist das ein Symbol. Ein Ikon ist ein Zeichen, das seinen Referenten durch Ähnlichkeit bezeichnet. Wenn Noten verschiedener Tonhöhe also weiter oben oder weiter unten auf dem Papier angeordnet sind, dann besteht eine Analogie zwischen dem Oben des Tons und dem Oben auf dem Papier – der Repräsentationsmodus der Zeichen ist ikonisch. Ein Index ist ein Zeichen, das seinen Referenten durch eine natürliche Verbindung in Raum und Zeit bezeichnet, so kann bspw. der Blitz den Donner anzeigen oder ein Niesen eine Erkältung. Indizes können deskriptiv (nasse Straße zeigt Regen an) und imperativ (Warnsignal beim Türenschließen zeigt an, dass man nicht mehr einsteigen soll) sein. In der Musiknotation war mir diese Komponente bisher nicht recht bewußt, doch Treitler führt bspw. Tabulaturen und Fingersätze an, die den Leser auffordern, etwas Bestimmtes zu tun.
In jedem Zeichensystem, so auch in der Musiknotation, sind alle diese Repräsentationsmodi hierarchisch vertreten. In welcher genauen Reihenfolge, das hängt vom Gebrauch, von der Art der Referenten und der Kompetenz des Lesers ab. Es ist eine Besonderheit unseres modernen Notensystems, dass wir es je nach Bedarf eher symbolisch, eher ikonisch oder eher indexikalisch lesen können. Die ikonische Komponente sei laut Treitler jene, die den bestmöglichen Lesefluß einbrächte.
Die Hierarchie der Repräsentationsmodi ist eine Möglichkeit, Musiknotationen zu unterscheiden. Einer anderen nähert sich Treitler über die Analogie zur Sprachschrift. Es gab im Verlaufe der Schriftevolution unterschiedliche Dominanzen von Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Während im Früh- und Hochmittelalter das geschriebene Wort vom gesprochenen dominiert und Geschriebenes eher durch einen Vorleser über das Ohr rezipiert wurde, ändert sich dies im Spätmittelalter allmählich. Heute sprechen wir uns das Geschriebene nicht mehr innerlich vor, wenn wir still lesen, sondern erfassen die Sprache in ihrer Struktur. Es ist der Pfad, den die Repräsentation der Zeichen nimmt, der hier zu unterscheiden ist. Dieser geht vom Graphischen über den Klang hin zur Bedeutung oder direkt vom Graphischen zur Bedeutung. Unterschiede im Repräsentationspfad müssen nicht zeitlich versetzt auftreten, wie es bei diesem Beispiel den Anschein hat, es wäre in Bezug auf verschiedene Sprachen im Mittelalter auch Gleichzeitigkeit denkbar, bspw. Latein im Gegensatz zu den Vernakularsprachen. Unterschiede im Repräsentationspfad müßten aber, so Treitler, auch in verschiedenen Musiknotationen sichtbar sein.
Um also eine Musiknotation zu verstehen, so faßt Treitler seinen ersten Abschnitt zusammen, müßten wir darin ein Zeichensystem erkennen, welches eine Hierarchie von Repräsentationsmodi aufweist, die funktional ist: a) für den spezifischen Gebrauch der Notation, b) für die Musik, die sie referenziert, c) für die Verbindung zwischen der Musik und den Personen, die sie gebrauchen und d) für die verschiedenen Kompetenzen der Leser. Es sei diese Aufmerksamkeit für Kontext und Funktion einer Musiknotation, die den semiotischen vom paläographischen Ansatz unterscheide.
2. Neumen als Silbenkennzeichen
Im zweiten Abschnitt fragt sich Treitler, wie das, was frühe Notation referenzierte, d.h. Melodie, von ihren Benutzern wahrgenommen wurde. Er kommt zu dem Ergebnis, dass Melodie als ein Attribut gesprochener Sprache, insbesondere der liturgischen Deklamation, aufgefaßt wurde, dass sie als Erweiterung der Sprachprosodie fungierte und auch so begriffen wurde. Er führt Zitate Aurelians von Réôme und Notkers an, um zu zeigen, dass die Silbe als Haupteinheit der Melodie galt und geht sogar so weit zu behaupten, dass der Terminus „neuma“ für die Melodiewendung einer Silbe stünde. Es erscheint plausibel, jedoch habe ich von dieser Bedeutung des (ansonsten sehr bedeutungsreichen) Wortes „neuma“ bisher nie gelesen und auch Treitler führt keine direkte Quelle an, die sie belegen würde. Erst für den Zeitpunkt, da der Begriff für die Notationszeichen selbst gebraucht wurde, d.h. ungefähr im 11. Jahrhundert, nennt er einen Aufsatz Huglos als Quelle wissenschaftlicher Belege. Für Treitler deutet alles darauf hin, dass die Zeichen der frühen Neumen nicht entwickelt wurden, um Tonhöhenverläufe anzuzeigen, sondern um individuelle melodische Wendungen anzuzeigen, die die Deklamation von Textsilben begleiten. Die in einer Neume kodierte Information beinhaltete also einerseits Angaben zur Koordination von melodischer Wendung pro vorhandener Textsilbe und andererseits die Richtungen der melodischen Wendungen, jedoch zunächst keine Angaben zur exakten Weite der Tonschritte, d.h. der Intervalle. Neumen sind, so bringt es Treitler auf den Punkt, nicht mehr als Marker (oder Kennzeichen?) für Silben.
3. Neumentabellen und -klassen
Eine Neumentabelle mit Zeichen, die zwischen dem 9. und 12. Jahrhundert in Europa in Gebrauch waren, steht am Anfang des dritten Abschnitts. Ihr folgen Definitionen dreier Begriffe (Klassen-Kategorien), die zu ihrer Beschreibung herangezogen werden. 1. Zeichen (eng. character): Damit sind die Zeichen der verschiedenen Melodiewendungen gemeint. Sie haben sich spätestens im 11. Jahrhundert, der Zeit der ersten zeitgenössischen Neumentabellen, verfestigt. 2. Neume: Mit Neume sind die verschiedenen Schreibweisen (Grapheme, Typen) ein- und desselben Zeichens gemeint, bspw. das Zeichen namens „Clivis“. Es hat in Lothringen andere Schreibweisen hervorgebracht als in St. Gallen, bezeichnet aber in beiden Fällen eine Folge von Hochton-Tiefton. 3. Schrift (eng. script): Gemeint ist das System der Standardneumen, die von einer bestimmten Gruppe von Benutzern gebraucht wurden, d.h. ihre konkrete Schreibweise für die verschiedenen Zeichen.
Die verbreitete Theorie über Neumen besagt nun, so Treitler weiter, dass die zwei Hauptneumen, aus denen alle anderen Zeichen zusammengesetzt sind, Punctum und Virga heißen, dass diese beiden die Zeichen für einen einzelnen Tiefton bzw. Hochton sind und dass sie von accentus gravis [ ` ] (Wendung abwärts) und accentus acutus [ ´ ] (Wendung aufwärts) abstammen. Innerhalb dieser Theorie werden zwei Klassen von Neumenschriften unterschieden, die sogen. „Akzentneumen“, die verschiedene Zeichen für Punctum und Virga verwenden und die sogen. „Punktneumen“, die lediglich Puncta verwenden und sich später aus den Akzentneumen entwickelt haben sollen.
Gegen diese von Coussemaker entwickelte Akzenttheorie, spricht sich Treitler im Folgenden aus. Er verweist auf Handschin, der als Einziger vor ihm auf die Mängel dieser Theorie hingewiesen haben soll, während Neumenforscher wie Wagner, Wolf, Bannister, Suñol, Apel und Corbin sie nur fortgetragen haben. Treitler hält Coussemakers Theorie angesichts der Komplexität ihres Gegenstands für zu simpel, gesteht ihr jedoch einige wahre Kernpunkte zu: 1. Wenigstens in einigen Fällen sind Neumen aus Punctum und Virga zusammengesetzt. 2. In diesen Fällen repräsentiert die Virga die höchste Note der Figur. 3. Die Aufwärtsbewegung einer Neume auf dem Papier korrespondiert mit einer Aufwärtsbewegung in der melodischen Figur. Dieses, von Treitler „Prinzip der Gerichtetheit“ (eng. principle of directionality) genannte Prinzip haben alle Neumenschriften gemeinsam, weshalb es als Prämisse des gesamten Systems gelten kann.
Der minutiöse Vergleich der Zusammensetzung auf- und absteigender, zweitöniger und dreitöniger Neumen (Clivis, Pes, Torculus, Porrectus) verschiedener Schriften bringt Treitler dann zur Vorstellung zweier neuer, durchaus plausibler Schriftklassen: In Klasse A repräsentiert die Virga immer, auch in zusammengesetzten Neumen den Hochton. In Klasse B findet die Virga entweder keine oder nur in zusammengesetzten Neumen Verwendung, wobei sie dort nur den höchsten Ton einer aufsteigenden Bewegung oder eine Aufwärtsbewegung markiert und nicht den absoluten Hochton. Der zeichentheoretische Unterschied ist jedoch folgender: Die A-Schriften begründen einen symbolischen Repräsentationsmodus, in dem die Verbindungen Virga – Hochton und Punctum – Tiefton arbiträr sind. Die B-Schriften begründen hingegen einen ikonischen Repräsentationsmodus, da sie dem Prinzip der Gerichtetheit verpflichtet sind. D.h. dort zeigen die Virgen eine Bewegungsrichtung an, wodurch eine Art Graph jeder Melodiewendung entsteht. Markant sind die Zeichen für Clivis (Hochton-Tiefton) und Porrectus (Hochton-Tiefton-Hochton):
symbolisch Schriftklasse A |
ikonisch Schriftklasse B |
Ich sehe an dieser Stelle noch nicht das schlagende Argument, das dagegen spricht, dass sich die Symbole für Hoch- und Tiefton aus den Akzentzeichen entwickelt haben sollten, mit seiner Unterscheidung zwischen eher symbolischen und eher ikonischen Neumenschriften trifft Treitler aber durchaus einen Punkt. Er hat Recht damit, dass hier zwei unterschiedliche kognitive Prinzipien zugrunde liegen und dass dies freilich die Frage nach der historischen und kulturellen Signifikanz dieser Unterschiede aufwirft.
4. Historischer Trend zum Ikonischen
Da sowohl symbolische, als auch ikonische Neumenschriften in der Frühzeit der Überlieferung in Gebrauch waren, ist es unmöglich zu sagen, ob eines dem anderen historisch vorausgeht. Treitler glaubt jedoch, anhand der Beneventinischen Neumen, die erst seit dem 11. Jahrhundert überliefert sind, einen historischen Entwicklungstrend ablesen zu können. Diesem Problem widmet er sich im vierten Abschnitt. In Benevent verwendete man sowohl die symbolischen als auch die ikonischen Zeichenformen für Clivis und Porrectus (s. Abb. o.), die symbolischen jedoch nur dann, wenn die Neume im Vergleich zur vorhergehenden Note höher liegt, d.h. ein melodischer Aufstieg verlangt wird. Auch die symbolischen Zeichen werden also in ikonischer Funktion verwendet, was die melodische Bewegung noch anschaulicher macht. Aus diesem Grund und dem Umstand, dass die Virga erst mit zunehmender Diastematik konsequent als Hochton verwendet wird, schließt Treitler auf einen generellen Trend von Musikschriften hin zum Ikonischen. Der inkonsequente Umgang mit Virga und Punctum in allen adiastematischen (also linienlosen) Neumenschriften belege außerdem, dass eine Abstammung von den Akzenten unwahrscheinlich sei, da ansonsten von Anfang an viel klarer zwischen beiden Zeichen differenziert worden wäre.
Um seine These von der Hinwendung zum Ikonischen zu untermauern, führt Treitler 33 Manuskripte französischer, italienischer, deutscher und englischer Provenienz an, in denen eine Hinwendung zur ikonischen Verwendung eigentlich symbolischer Neumenzeichen zu beobachten ist. Er geht dabei u.a. auf die spezielle Schrift in Nonantola und eine frühe Aquitanische Schrift ein, die anstelle von Virga und Punctum die accentus acutus und accentus gravis ähnlichen Zeichen / und \ verwendet. Doch auch dies bekräftigt, laut Treitler nicht Coussemakers Theorie von der Akzentherkunft, da spätere Aquitanische Quellen diese Zeichen nicht durch Virga und Punctum ersetzen, sondern nur durch Puncta.
Ein möglicher Grund für die Hinwendung zu ikonischen Schreibweisen könnte die Etablierung neu komponierter Melodien durch die Organa-Kunst (ca. 11. Jh.) sein. Symbolische Schriften sind adäquat und ausreichend, solange sie als Gedächtnisstützen für oral tradierte, hergebrachte Choralmelodien fungieren. Soll jedoch eine neue, unbekannte Melodie fixiert werden, scheint es erstrebenswert, so viele Informationen wie möglich über sie zu notieren. Der Trend zu ikonischeren Schriften könnte also davon motiviert gewesen sein, nicht-traditionelle Musik repräsentieren zu wollen. Eine zweite, notatorische Entwicklung dieser Zeit, die Einführung von Quadratnoten und Notenlinien, könnte ebenso motiviert sein.
Die Formen der Quadratnoten entsprechen deutlich den symbolischen (nicht etwa den ikonischen) Neumenformen. Sie entwickeln sich im Verlauf der Geschichte in der Modal- und Mensuralnotation weiter zu Repräsentanten zeitlicher Dauer. Die ikonischen Neumenformen werden hingegen durch die großflächige Einführung von Liniensystemen redundant und obsolet und sterben schließlich aus. Die Diastematik verdrängt die ikonischen Formen, weil sie einfacher und noch informativer ist.
5. Diastematik
Diastema ist der griechische Begriff für Intervall. Neumen werden diastematisch genannt, wenn sie so vertikal versetzt auf dem Papier angeordnet sind, dass daraus deren Tonhöhe erkennbar ist. Jedoch lehnt Treitler nicht nur die Einteilung in Punkt- und Akzentneumen, sondern auch jene nach diastematischen und adiastematischen Neumen ab. Wie schon sein Vorgänger Handschin deutlich machte, kann jede Notation mehr oder weniger diastematisch sein und alle Neumennotationen verbindet der Umstand, dass sie eine Idee von Gerichtetheit (directionality) vermitteln. Ohne die Vorkenntnis der Melodie wäre aber auch ein zeitgenössischer Sänger nicht in der Lage gewesen, eine Melodie wie die in der obigen Abbildung abzusingen. Die Neumen enthalten zwar Informationen über die Richtung, in welche eine Melodie sich bewegt, jedoch nicht über die genauen Abstände der einzelnen Töne. Daher möchte sich Treitler den Begriff „diastematische Neumen“ für Notationen aufbewahren, bei denen eine exakte Proportion zwischen vertikaler Distanz auf dem Papier und intervallischer Distanz besteht, z.B. durch die Zuhilfenahme von Notenlinien. Nach diesen Kriterien liegt in den zuvor behandelten Quellen keine Diastematik vor, sie war nie intendiert, und es wäre anachronistisch anzunehmen, die Schreiber wären am Versuch, intervallisch zu notieren, nur gescheitert.
Da dieselben Neumenschriften diastematisch und adiastematisch geschrieben werden können und geschrieben wurden, ist Diastematik keine konstitutive Eigenschaft einer Schrift. Jedoch liegt es nahe, über eventuelle funktionelle Unterschiede zwischen beiden Schreibvarianten zu spekulieren. Die ersten diastematischen Schriften nutzten ikonische Neumenformen, die symbolischen waren nur dann diastematisch, wenn sie auf Linien notiert wurden. Treilter glaubt daher, dass ikonische Schreibweisen und Diastematik beide derselben Grundidee der Repräsentation (genaue Abbildung d. Melodiebewegung) entsprechen, dass jedoch die Diastematik mit der Notenlinie den Weg in den universellen Gebrauch gefunden hat, während die ikonischen Formen obsolet wurden. Dennoch besteht zwischen beiden auch ein grundlegender Unterschied in der Repräsentation: Während die ikonische Schreibweise die Richtung der Melodiewendung einer sprachlichen Silbe repräsentiert, repräsentiert Diastematik relative Höhe einzelner Töne. Es muß also eine Veränderung in der Wahrnehmung westlicher Notation stattgefunden haben, von einem System von Zeichen für die Wendung von Sprache zu einem System von Zeichen für die Tonhöhe.
6. Literarizität
Im sechsten Abschnitt vergleicht Treitler diese Entwicklung der Musiknotation mit der historischen Entwicklung von Sprachschriften, was er generell für aufschlußreich für die Geschichte der menschlichen Kognition hält. Während Sprachschriften sich vom Ikonischen hin zum Symbolischen entwickelten, scheint Musiknotation den umgekehrten Weg gegangen zu sein. Beiden ist jedoch gemeinsam, dass sie zunehmend analytisch wurden und Systeme entwickelten haben, die durch Kombination einer limitierten Zahl an Zeichenformen eine unlimitierte Zahl an Referenten anzeigen können. Die Vorteile eines solchen Systems scheinen den Zeitgenossen bewußt gewesen zu sein und die Entwicklung einer echten Literarizität überhaupt erst ermöglicht zu haben. Im Gegensatz dazu ist bspw. die Byzantinische Notation immer symbolisch geblieben. Bis ins 17. Jahrhundert verwendete die oströmische Kirche liturgische Gesangbücher wohl eher nicht, um darin zu lesen oder daraus zu singen.
7. Akzenttheorie
Im letzten Abschnitt seines Aufsatzes widmet sich Treitler endlich ausführlicher Akzenttheorie, d.h. der hergebrachten Vermutung, dass Neumen von den griechischen accentus acutus und accentus gravis abstammen. Er verwirft diese Theorie als zu spezifisch und zu simpel, da sie eigentlich nicht wirklich zu fassen ist und unklar ist, wodurch sie je belegt werden sollte. Durch Aurelian von Réôme, den Verfasser des ältesten, mittelalterlichen Musiktraktats (zw. 840 – 850) scheint dies jedenfalls nicht der Fall. Bereits Handschin hatte gezeigt, dass seine Verwendung der Termini „acutus accentus“ und „circumflexio“ sich nicht auf Hochton und Clivis bezieht. Ihm folgend behauptet Corbin sogar, er hätte sich nicht einmal auf Neumen bezogen, sondern direkt auf melodische Figuren. Die von Ferretti dargestellte Evolution des Punctum aus dem Gravis-Akzent (man stelle sich hier eine Darstellung ähnlich jener der Evolution des Menschen aus dem Affen vor) hat es so nie gegeben. Was jedoch auch durch die Passage bei Aurelian klar wird, ist die frühe Assoziation musikalischer Wendungen mit dem Konzept des sprachlichen Akzents. Ebenso wie Treitler es weiter oben für den Begriff neuma behauptet hat, scheint auch der des accentus sowohl für die intonatorische Wendung als auch für das graphische Zeichen an sich zu stehen. Eine gewisse Nähe zwischen Konzepten und Phänomenen des Sprechens und des Musizierens ist also nicht von der Hand zu weisen.
Ich muß an dieser Stelle sagen, dass ich mehr als das allein nie mit der sogen. Akzenttheorie verbunden habe. Sie scheint jedoch für die vor den 1980ern sozialisierten Musikwissenschaftler sehr viel konkreter gewesen zu sein (s. Ferrettis Evolutionsdarstellung). Gegen diese konkrete Ausrichtung der Akzepttheorie führt Treitler nun fünf Punkte ins Feld, die ernsthafte Zweifel an ihrer Glaubwürdigkeit aufkommen lassen: 1.) Da frühe Quellen gar nicht oder nicht konsequent zwischen Punctum und Virga unterscheiden, ist es unplausibel anzunehmen, dass beide Zeichen von Anfang an systeminhärent sind. Die erste Schrift, die konsequent unterscheidet (Benevent VI. 34), ist zwei Jahrhunderte älter als die Anfänge der Neumenüberlieferung. 2.) Das klassische Latein war keine prosodisch betonte Sprache, es machte keinen Gebrauch vom Tonhöhenakzent (eng. pitch accent) zur Unterscheidung von betonten und unbetonten Silben.1 3.) Musikschrift wurde zunächst von praktischen Musikern genutzt und erst später theoretisch reflektiert und systematisiert, was die Neumentabellen aus dem 11. Jh. belegen. Treitler hält es an dieser Stelle für unwahrscheinlich, dass sich Musiker davor nach antiken, grammatischen Theorien gerichtet haben könnten, die nicht der Praxis ihrer Zeit entsprachen.2 4.) Es wird schwer einen Übergang von Akzentzeichen zu Neumenzeichen in den Manuskripten direkt nachzuweisen. Zwar gibt es öfter Quellen, in denen Texte mit Zeichen markiert sind, man könne aber nie genau sagen, ob diese noch der Kategorie „Akzent“ oder schon der Kategorie „Melodie“ zuzuordnen sind. 5.) Die in den Neumentabellen aufgeführten Termini Punctum und Virga (von Virgula) sind identisch mit denen der Interpunktierungszeichen Punkt und Komma. Aufgabe der Interpunktionszeichen war es, Sinnabschnitte (Kommata, Kola, Perioden) eines Textes zu markieren. Dieselben Hierarchien von Sinnabschnitten, so Treitler, soll auch das Konzept Melodie projiziert haben. Zudem sei die Funktion von Akzentzeichen jener der Interpunktionszeichen sehr ähnlich gewesen. Es sei eher darum gegangen, Sinnabschnitte zu separieren als darum, das Anheben oder Absenken der Intonation zu kennzeichnen.3 Die systematische Untersuchung der Zusammenhänge von Neumen-, Interpunktions- und Akzentzeichen könnte neue Erkenntnisse über die Anfänge des Musikschrifttums bringen. 6.) Neumen könnten auch von ekphonetischer Notation abstammen. Ekphonetik war ein System von Lektionszeichen in Hebräisch-Masoretischen und Byzantinischen liturgischen Texten. Sie repräsentierten melodische Formeln am Anfang und Ende von Textklauseln (syntaktischen Abschnitten), während der Rest des Textes eher monoton rezitiert wurde. Eine ekphonetische Tradition ist aber in der Westkirche nicht nachweisbar und bringt auch erst einmal keine wirklich neuen Erkenntnisse über die Rolle der Musik als Syntaxmarkierung.
Zusammenfassung
Treitler spricht sich für einen semiotischen Ansatz der Untersuchung früher Musikschriften aus. Dieser lenke, im Gegensatz zum paläographischen, das Augenmerk auf den Kontext und die Funktion eines Zeichensystems. Musiknotation ist ein solches Zeichensytem – Symbole, Ikonen und Indices bilden darin eine Hierarchie. Unsere moderne Notenschrift ist eine visuelle Analogie für das Fortschreiten von Tonhöhe in Zeit und kann je nach Aufgabe eher symbolisch, ikonisch oder indexikalisch verstanden werden. Die Neumenschriften des Mittelalters teilt Treitler hingegen in zwei Klassen ein: die symbolischen Schriften und die ikonischen Schriften, welche Zeichen für die Kennzeichnung von Silben in der Sprache anbieten. Während die Neumenzeichen in der ersten arbiträr sind, zeichnen sie in der zweiten den Melodieverlauf graphisch nach, was besonders an den Zeichen für Clivis und Porrectus erkennbar ist. Dieses ikonische Prinzip der Neumenzeichen wird irgendwann von Diastematik und Notenlinie abgelöst, die noch besser in der Lage sind, Melodieverläufe abzubilden und sich daher weithin durchsetzen. Die ikonischen Neumenformen sterben aus, während sich die symbolischen in der Modal- und Mensuralnotation weiter zu Repräsentanten der Zeit entwickeln. Eine direkte Evolution der Neumenzeichen aus den griechischen Akzentzeichen Akut und Gravis hält Treitler für unwahrscheinlich und nicht nachweisbar. Er glaubt dennoch an tiefere Gemeinsamkeiten mit verschiedenen Kennzeichnungssystemen von Sprache, bspw. Interpunktion und Ekphonetik.
Quelle: Treitler, Leo: „The Early History of Music Writing in the West“, Journal of the American Musicological Society, Vol. 35, No. 2 (Summer 1982), pp. 237 – 279
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- Überliefert ist, dass das Lateinische eine „quantitierende“ Metrik hatte, d.h. zwischen kurzen und langen Silben unterschied. Es ist möglich, anhand von Regeln zu entscheiden, welche Silbe lang und welche kurz ist und ergo welcher Metrik ein Vers folgt. Wie aber hat lateinischer Versrhythmus phonetisch funktioniert, wie hat er sich angehört? Wenn lange Silben nicht betont wurden, um sie von kurzen zu Unterscheiden, wurden sie gedehnt?
- Ich wüßte nicht, warum das unplausibel sein sollte. Auch heute richten wir uns nach antiken Theorien, die nicht der Praxis unserer Zeit entsprechen, bspw. wenn wir in der deutschen Metrik von „Iambus“ sprechen. Ich traue auch mittelalterlichen Sprechern zu, da einer Translation fähig zu sein. Auch Theoretisierung ist ja ein Prozess, der nicht plötzlich beginnt.
- Ich finde es nicht verkehrt, an dieser Stelle zu fragen, inwieweit die Veränderung der stimmlichen Intonation dem Erkennen von syntaktischen Abschnitten nicht inhärent ist. Immerhin haben wir es hier mit einer überwiegend mündlichen Kultur und Texten zu tun, die rezitiert wurden. Warum soll die Kenntnis, dass nun ein Satz zu ende ist, eine Aufzählung beginnt oder ein Teilsatz eingeschoben wird, nicht mit der Anweisung, die Stimme abzusenken, zu pausieren, leiser oder lauter zu sprechen, einhergehen? Auch heute heben wir beim Vorlesen noch die Stimme, wenn am Ende des Satzes ein Fragezeichen steht und senken sie bei einem Punkt. Die markierten Texte sind ja inhaltlich bekannt. Warum sollten also Markierungen von Sinnabschnitten in erster Linie nur dem Erfassen der Bedeutung dienen und nicht etwa auch eine Anweisung zur Rezitation darstellen? Der Schritt von rezitativer Intonation zu gesungener Melodie scheint mir klein.
April 24th, 2012 18:11
Guten Tag,
ich möchte Sie gerne nach dem Begriff „Hochton“ fragen. Mir ist dieser Terminus bisher noch nie untergekommen. Können Sie mir diesen genauer erläutern, d.h. in welchem Zusammenhang er gebraucht wird. Ist damit auch in anderen Musikepochen das Gleiche wie mit „Spitzenton“ oder „höchster Ton in einem Abschnitt“ gemeint? Es wäre wichtig für mich, dies zu wissen, da ich mich als Musiklehrer damit beschäftige.
Für eine Antwort wäre ich sehr dankbar.
Herzliche Grüße, Fritz Schuler
April 25th, 2012 11:27
Hallo, im Zusammenhang mit Erläuterungen von Neumenschriften meint Hochton einfach einen Ton, der höher ist als die Töne in der Umgebung dieses Tons, also einen relativ höher gelegenen Ton. Die Virga, also das Neumenzeichen, bezeichnet bspw. einen relativen Hochton, während das Punctum, ein anderes Neumenzeichen, einen relativen Tiefton bezeichnet. Es gibt hier meines Wissens keine absoluten Werte, wie hoch Hoch und wie tief Tief ist. Auch werden die Zeichen nicht durchgehend konsistent verwendet, d.h. manchmal steht eine Virga, obwohl der Melodienton eigentlich tiefer ist als der vorherige oder nächste. Mit Spitzentönen oder muskalischen Klimaxen hat das nichts zu tun. LG, LeV.