Tobias Rösch
Der graue Mann
Im Schattenfleck vorm Parkhotel, da saß ein grauer Mann,
er trug im Sack zwei Münzen nur, doch fasste sie nicht an.
Sein Lächeln nahm er niemals mit von seinem Kein-Zuhaus,
er war nicht mehr als Rattendreck und arm wie eine Maus.
Herr Schwarzfrack und Frau Distelmund erblickten ihn vorm Haus,
da kniete er und lechzte er, trank eine Pfütze aus.
Herrn Schwarzfrack und Frau Distelmund versaute er den Morgen,
sie wünschten sich man könnte ihn ganz rasch sozial entsorgen.
Sechs Wochen später nahm der Mann sein Geld zur Lotterie,
ob Glück, ob Pech, ihm war` s egal in seiner Lethargie,
gesagt, getan, er setzte es noch eh er sich besann.
Der graue Mann verlor es nicht, der graue Mann gewann.
Bald lud man ihn zu jedem Tanz, in auserwählte Kreise,
hochlobte seine Schicklichkeit auf angenehmste Weise,
erhob ihn gar zum Präsident mit Würde und mit Ehren
und hieß ihn jeden Schattenfleck von Nachtgestalten leeren.
Herr Schwarzfrack und Frau Distelmund vermachten ihm das Haus,
dort lag er lang und wurde fett und sah zum Fürchten aus.
Herrn Schwarzfrack und Frau Distelmund nahm er zudem die Sorgen,
denn war er ab und an bereit den Mantel auszuborgen.
Im Schattenfleck vorm Parkhotel, da sank ein alter Mann,
er trug im Sack zwei Löcher nur, man fasste ihn nicht an.
Sein Haar war wie sein Mantel grau, so grau wie eine Maus,
er träumte lang noch bis er starb, dann war es mit ihm aus.
© NTSR | Jul. 2004
Der Star der Nation
Vor milchigen Scheiben fuhr Kelly Divine
in einem Waggon und auf rostigen Gleisen
sich langsam mit zitternden Händen durchs Haar.
Es knarrte die Röhre tagaus und tagein,
umgab sie doch stets, wie auf all ihren Reisen,
Kelly Divine, unsern einstigen Star.
Im Kerzenschein flimmerte Kelly Divine,
ach, seht nur! sie lächelt mit schwülstiger Lippe,
als stünde ihr Sessel im Scheinwerferlicht.
Das Schluchzen wird leiser, bald schläft sie wohl ein,
ins Tuch des Vergessens hüllt sie ihr Gerippe
und leistet auf Hoffen und Bangen Verzicht.
Um Mitternacht, Schlaf liegt auf totem Geleise,
da raschelt die Decke, da dreht sie sich prustend,
die Augen halboffen und richtet sich auf.
Dann huscht sie zum Spiegel, verstohlenerweise,
mit schweißkalten Fingern und immerzu hustend
betupft sie ihr Antlitz mit Puder zuhauf.
Drauf leuchtet im Wagen ein Lampionreigen,
es öffnet die Türe sich knarrend zur Nacht,
ein Damenfuß tappt auf die Stufen hernieder.
Die Blitzlichter flattern, es summen die Geigen,
der brandende tosende Beifall erwacht,
für Kelly Divine, denn wir haben sie wieder!
Sie floh mit dem Sternenkleid um ihre Hüfte
die Schienen entlang übers Bahnhofsgelände,
durch Trauben von Menschen und Jubel und Licht.
In Hallen und Gängen betörende Düfte
verteilten sich rasch über Decken und Wände.
Kelly, wach auf, sage, hörst du mich nicht?
Die Welt war für Kelly zur Bühne geworden,
es drängten die Massen ihr Schauspiel zu sehen,
sie tanzte und drehte und lachte sich frei.
In Wirklichkeit aber da waren die Horden
Fragmente der Zeit, wie in Träumen sie wehen
aus früheren Tagen und brechen entzwei.
So schlummerte friedlich noch Kelly Divine,
die brennende Kerze entging ihren Sinnen,
zu tief schwelgte Kelly in Trug und Fiktion.
Der Wagen stand bald schon in flackerndem Schein,
am Morgen entstiegen ihm Schwaden und innen
verglühte in Träumen der Star der Nation
© NTSR | Mar. 2004
Des Menschen Wolf
Auf allen Dächern sieht man Menschen harren,
des Menschen Wolf, so raunt man, streift umher.
Sein Ruf weht aus und pfeift durch jeden Sparren,
er heult und tobt und fegt die Straßen leer.
Von ferne dringt das harte Glockenschlagen,
doch horcht man auf, wenn sich ein Grashalm biegt.
Hört ihr nicht auch den Wolf die Knochen nagen,
wobei er selig sich an unsre Häuser schmiegt?
Schon will man ihn am Eck gesehen haben,
man spürt bereits den heißen Atem gehn.
Ach läg er tot nur lange schon im Graben
und wäre fort auf Nimmerwiedersehn!
Doch fragt man voller Sorge in die Stille,
„Der Wolf, wer sah ihm je ins Angesicht?“
ereifert sich des wilden Volkes Wille,
sie zetern – „Fremder, sage glaubst du nicht?“.
Bald hält man in den Hallen würdge Messen
und predigt von der Welten Untergang.
Der Wolf, und mag er jeden von uns fressen,
bricht niemals unsern Mut und Tatendrang.
Wir lenken alle Bomben und Raketen
im steilen Flug auf jedes Häuserdach
und flüchtet er, so schlagen mit Macheten
wir hinterdrein und rächen siebenfach!
Die Stadt versinkt und alle Mauern fallen,
kein einzger Stein bleibt auf dem andern stehn.
Doch mancher hat im Rauch- und Trümmerwallen
ganz sicher noch des Menschen Wolf gesehn.
© NTSR | Aug. 2004