4500 Jahre alte Reime

Gerade bereite ich mit ein paar Komilitonen für’s Uni-Radio eine Literatur-Sendung vor. Es soll um den Reim gehen und wir wollen gucken, wie es ihm heute ergeht. Als Alt-Germanist stürze ich mich in einem Bericht erstmal auf seine Geschichte. Über den Stabreim und die Endreimgenese im germanischen Sprachraum habe ich ja ungefähren Überblick, aber jetzt hat mir eine befreundete Ägyptologin neues Terrain gezeigt: altägyptische Reime.

Aufgeschrieben wurden sie vor ca. 4500 Jahren in den Räumen und Gängen der Pyramiden der Könige und einiger Königinnen des Alten Reichs in Ägypten. Bei diesen Pyramidentexten handelt es sich um religiöse Totentexte, Dramatisches, Hymnen, Litaneien und Zaubertexte, die einiges an sprachmagischem Material enthalten unter anderem Reime. Diese Reime funktionieren nicht so, wie wir uns heute einen Reim vorstellen. Es handelt sich vielmehr um Alliterationen, die sich nicht unbedingt nur am Wortanfang befinden, sondern auch mittendrin oder am Ende stehen. Bekannt sind stabende Konsonanten, die auch in Gruppen oder permutierenden Verbindungen auftreten. Über die Vokale kann man hingegen wenig sagen, denn das altägyptische Schriftsystem zeichnet sie nicht auf.

Ein weiteres, sehr interessantes Beispiel für den ägyptischen Reim ist der sogenannte „Fingerzählreim“, der sich in zwei verschiedenen Papyri eines Totenbuchtextes befindet und nicht nur in Versendposition reimt, sondern sogar einen strophischen Aufbau und möglicherweise Parallelsyntax verfolgt. Der Fährmann weigert sich, den bittstellenden Toten über den Fluß ins Totenreich zu bringen, denn dieser könne, so unterstellt er, ja nicht einmal seine eigenen Finger zählen. Mit dem Fingerzählreim beweist der Tote aber, dass er das doch kann. Man kann sich das ungefähr vorstellen, wie diese Reime, die uns unsere Mütter immer vorgesprochen haben: „Das ist der Daumen. Der schüttelt die Pflaumen. Der liest sie auf, etc.“ Witzig finde ich, dass die altägyptischen Dichter offenbar schon vor denselben Selektions-Problemen standen wie wir heute: Zugunsten des Reims finden sich im Fingerzählreim z.T. ungewohnte Wortstellungen und -formen.

„Es kann kein Zweifel sein, daß wir es in unserem Fingerzähltext mit dem ältesten Beispiel des Reims in Ägypten und aller Wahrscheinlichkeit nach auch dem ältesten Reime auf Erden überhaupt zu tun haben“, heißt es bei Sethe.

Unter den jüngeren Hierogrammaten erfreut sich die Alliteration zunehmender Beliebtheit. Später finden sich aber auch identische Reime, etymologische Reime, Paronomasien und ähnliche parallelistische äquivoke Gebilde. Forscher nehmen heute an, dass die altägyprischen Reime keine Zufälle waren, sondern dass sie zum Schmuck der Sprache beitrugen und deren magische Wirkung positiv unterstützten. Zum Teil hatten sie sogar Gliederungsfunktion, so wie wir das vom heutigen Endreim her kennen.

Für mich war das ein spannender Exkurs, selbst ohne Altägyptisch zu können.
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  • Hermann Grapow: „Sprachliche und schriftliche Formung ägyptischer Texte“ in Leipziger Ägyptologische Studien, 1931
  • Firchow: „Stilistik in den Pyramidentexten“, Akademie der Wissenschaften, Berlin, 1953
  • K. Sethe „Ein altägyptischer Fingerzählreim“ in Zeitschrift für ägyptische Sprache 54, 1918

5 Kommentare zu “4500 Jahre alte Reime”

  1. Gedanquill
    Dezember 6th, 2006 21:37
    1

    Hallo LeV,

    der Begriff Parallelsyntax bietet sicherlich einige Ansätze, sich darunter etwas vorzustellen. Was das genau ist, konnte ich aber weder bei Wikipedia noch im Internet selbst herausbekommen. Vielleicht könntest Du ja eine Erläuterung hinzufügen?

    Vielen Dank und viele Grüße,
    Gedanquill

  2. LeV
    Dezember 7th, 2006 10:43
    2

    Ich denke, das ist kein Fachbegriff. Ich hätte ebensogut „parallel gestaltete Syntax“ schreiben können. Ich kenne mich ja mit dem Altägyptischen nicht aus, aber so wie ich es verstanden habe, sind die Satzstrukturen der miteinander reimenden Satzpaare grammatisch gleichartig gestaltet. Also in der Art:
    Im Sommer ist’s warm.
    Im Winter ist’s kalt.

  3. demon17
    Juni 14th, 2009 03:38
    3

    [Quote]“Es kann kein Zweifel sein, daß wir es in unserem Fingerzähltext mit dem ältesten Beispiel des Reims in Ägypten und aller Wahrscheinlichkeit nach auch dem ältesten Reime auf Erden überhaupt zu tun haben”, heißt es bei Sethe.[/Quote] Na bei solchen superlativen Aussagen wäre ich vorsichtig, schließlich sind die Veden nach Aussage indischer Gelehrter über 5000 Jahre alt und nutzen ebenfalls Alliteration und Reime. Die westliche Geschichtsforschung ist allerdings nicht bereit ihre wesentlich jüngere Datierung anhand von beschriebenen Sternenkonstellationen oder beschriebenen Fluss(ver)läufen, deren Spuren sich inzwischen geologisch datieren lassen, entsprechend zu korrigieren.

  4. LeV
    August 8th, 2009 19:41
    4

    Die Veden wurden meines Wissens erst im 5. Jh. nach Christus aufgeschrieben. Aussagen über deren angebliches Alter sind daher rein spekulativ. Wissenschaftliche Beweise für die Behauptung der indischen Gelehrten gibt es keine. Im Gegensatz dazu wurde der Fingerzählreim bereits vor 4500 Jahren aufgeschrieben und ist im Vergleich zu den Veden verhältnismäßig sicher zu datieren.

  5. dermon17
    August 8th, 2009 22:14
    5

    Sicher, es ist müßig darüber zu streiten. Allerdings wird die Theorie, das die Veden das Produkt sogenannter „Arier“ sind, hellhäutiger Indorgermanen, die Indien ab 1500 v.C. eroberten immer brüchiger. Zumal diese ausgerechnet von einem Engländer (Fisher) zur Zeit der Kolonialherrschaft aufgestellt wurde.Indische Historiker gehen von städtische Hochkulturen ab 8000 v C. in Indien aus. Zum Vergleich Ur, eine der ältesten bekannten Stadtgründungen im nahen Osten wird auf 4000 V C. datiert.

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