Interpretation: Le vampir ~ Charles Baudelaire
[M]Eine Interpretation
Ich habe einmal gelesen, dass der Deutungsspielraum der symbolistischen Lyrik in der tendenziellen Beliebigkeit der Sinngebung gipfelt. Ich glaube heute nicht mehr an diese Beliebigkeit, wohl aber an den bewußt geöffneten Deutungsspielraum. „Le vampir„, ein Strophengedicht aus den „Fleurs du Mal“ von Charles Baudelaire führt mir dies immer wieder exemplarisch vor Augen. Viel habe ich darum schon gerätselt und viel glaubte ich darin erkannt und entdeckt zu haben. Mein heutiger Stand der Erkenntnis beruht auf der Annahme, dass der Vampir eine Metapher für eine Emotion ist.
Es wurde aber oft spekuliert, Baudelaire hätte mit dem Vampir auf seine langzeitige Geliebte, die Mulattin Jeanne Duval, angespielt. Ich bin mit solchen biographistischen Thesen äußerst vorsichtig und zurückhaltend und vertraue lieber nur dem, was tatsächlich im Text steht. Als sicher kann diesbezüglich gelten, dass es sich beim Dämon um ein weibliches, lyrisches Du handelt, denn darauf deuten die weiblichen Adverbialformen folle, parée, etc. hin. In ihrer Übertragung schreibt Fahrenbach-Wachendorff: „Du, die wie ein Messerstoß“, um da Zweifel über das Geschlecht auszuräumen. Dass das lyrische Du aber identisch mit dem Vampir ist („Le vampir“ verweist eindeutig auf ein Masculinum), bezweifle ich. Ebenso bezweifle ich, dass das lyrische Ich die lyrische Du töten will, wie man es aus Strophe vier vielleicht herauslesen könnte.
Ich mache meine Interpretation an der These fest, dass das lyrische Ich gar kein Opfer der lyrischen Du ist, sondern vielmehr ein Opfer seiner eigenen Schwäche und dass der Vampir eine Metapher für den daraus erwachsenden und zerstörerischen Selbstkonflikt ist. Gucken wir uns den Text dazu mal genauer an. Das lyrische Ich beschreibt seine Gebundenheit an die lyrische Du (Infâme à qui je suis lié – Ruchlose, an die ich gebunden bin) in Stophe drei als Sucht (Säufer, Spieler). Es ist süchtig nach der lyrischen Du, von deren charismatischer, souveräner Ausstrahlung es sich geradezu magisch angezogen fühlt. Wie überwältigend ihre Erscheinung/ihr Erscheinen auf das lyrische Ich wirkt, beschreibt Strophe eins (Messerstoß, Eindringen, etc.). Es ist von der Situation völlig überrumpelt, es fühlt sich angezogen und ist dieser Anziehung gegenüber völlig machtlos. Es erkennt seine Schwäche und um sich diese nicht eingestehen zu müssen, entwirft es sich in der Opferrolle, sieht sich als Opfer der femme fatale. Klar, so wie sie ihn überwältigt hat, muß es mit böser Magie zugegangen sein, ergo muß Sie ein Dämon sein und dass man gegen einen Dämon nicht bestehen kann, das ist ja wohl logisch.
Ganz so einfach ist es aber für das lyrische Ich dann doch nicht und hier beginnt der spannende Konflikt. Das lyrische Ich bewundert die Dämonin für ihre Macht und Stärke, die Inbegriff dessen sind, wonach es strebt – sein Ideal. Natürlich kommt es davon nicht los. Zugleich sind ihre Tugenden aber Spiegel seiner eigenen Untugend, der Machtlosigkeit und Schwäche, die Inbegriff dessen sind, was es anwidert – sein Spleen. Daher will es von ihr loskommen und jetzt kommen Schwert und Gift ins Spiel. Diese sollen ihm die Feigheit erretten (sécourir la lâcheté), quasi bewahren. Seine Feigheit besteht nämlich darin, dass es lieber den Tod leiden und so vor der schmerzhaften Selbsterkenntnis bewahrt bleiben würde, als sich durch ihre Anwesenheit seine Schwäche eingestehen zu müssen. Aber er ist in der Tat so feige, dass er nicht einmal dazu imstande ist. Der Dialog mit dem ihn auslachenden Schwert und Gift ist Metapher für den Ekel, den das lyrische Ich daraufhin vor sich selbst empfindet. Es ist in eine Sackgasse geraten, aus der es sich nicht mehr herausreden kann. Bringt es sich nämlich um, wäre das eine ebenso deutliche Bestätigung seiner Schwäche, wie es nicht zu tun. Verzweiflung! Sein Vampir (ton vampir – eindeutige Besitz- und Geschlechtszuweisung) ist es, der ihn aussaugt und krank macht, was ihn aber aussaugt, ist sein eigener innerer Konflikt (für den die lyrische Du ja eigentlich überhaupt nichts kann). Mit dem Umstand seines Selbstmordes, das wird ihm durch den fiktiven Dialog bewußt, würde er diesen Konflikt, den er durch den Tod dann beigelegt zu haben glaubt (le cadavre – der Leichnam), aber nur wieder beleben (ressusciter). Das bedrückende Fazit ist, dass der Selbstmord kein Ausweg ist.
Oktober 8th, 2011 05:25
Wow, ich bin begeistert. Etwas so komlexes so kurz und knackig dargstellt. Schade, dass ich nicht schon zuvor darüber gestolpert bin. Meiner Meinung nach eine sehr sehr gute, logische und in sich schlüssige Interpretation.
Mfg Jens