Der schöne Weiher

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Der schöne Weiher

   Es hat sich Narziß in die Tiefen gestürzt,
dort hält er sein Abbild umschlungen;
   ergeben dem Sehnen. Dies hat nun verkürzt
das Leben des bildschönen Jungen.

   Der Weiher, selbst Spiegel des Jünglings, beginnt
von Trauer gepackt seine Klage.
   In salzigen Tränen zerfließt er geschwind
und weinet so mehrere Tage.

   Die Nymphen, vom Schluchzen des Weihers gelockt,
versammeln sich rasch bei dem Guten
   und finden, ans Ufer des Wassers gehockt,
verwandelt die plätschernden Fluten.

   Sie kommen zu trösten, ihn süß zu erfreu’n;
schon lösen sie hastig die Strähnen,
   die goldenen Zöpfe, ganz ohne zu scheu’n
und rufen mit wallenden Mähnen:

   „Was weinest du Weiher, was seufzest du Naß?
In Tränen bist du gar verwandelt.“
   „Ich weine, sprach dieser, den Umständen, daß
er fort ist, der einst hier gewandelt.“

   „Daß du um ihn trauerst, das wundert uns nicht.
Er war wunderschön, dein Narcissus!“
   Der sinnende Weiher sprach ruhig und schlicht:
„War er denn so schön, mein Narcissus?“

   „Ach, Weiher, wer wüßte dies besser als du?
Zu dir kam er täglich bestaunen
   sein Spiegelbild. Uns aber ließ er in Ruh‘
und gönnt‘ uns den lüsternen Faunen.

   Wir lockten auf Höhen, im grünenden Wald
ihn singend und spielten die Leier.
   Es trugen die zartesten Füßchen als bald
den Knaben zu dir, guter Weiher.“

   Die Worte bedenkend schwieg lange der See,
gedachte dem treuen Begleiter.
   Es tat die Erinnerung schrecklich ihm weh…
Er seufzte, doch dann sprach er weiter:

   „Ich liebte Narcissus und weine für wahr;
wenn er sich am Ufer darniedergeleit,
   dann war mir sein Dunkel der Augen so klar,
ein Spiegel der eigenen Schönheit.“

XII | Apr. 2004

Zur Entstehung

Ich bin kein Geschichtenerzähler, Lyriker ja, aber das mit dem Geschichten erzählen kriege ich nicht hin. Episches entwickelt sich immer mehr oder weniger als Verlauf, auch wenn dieser nicht chronologisch dargestellt wird, so ist er linear und kann in chronologische Reihenfolge gebracht werden. Lyrik ist eine Entwicklung des Moments, ein Affekt, der sich quasi ballongartig von einem Punkt aus aufbläht und nicht von einem Punkt A zu einem Punkt B kommt. Das Lyrische liegt mir.

Dennoch wollte ich schon lange eine Ballade schreiben, eine kleine Erzählung im gebundenen Vers, in der Figuren auftreten und miteinander agieren. Was macht man, wenn einem selbst keine Geschichte einfällt. Ganz klar, man klaut sich eine. Diese hier habe ich von Oscar Wilde geklaut und kennengelernt habe ich sie als Intro des Coelho Romans „Der Alchimist“. Lange habe ich im Netz nach dem Original gesucht und unter dem Titel „The Pupil“ wurde ich fündig. Die Herrliche Doppeldeutigkeit dieses Titels ist im Deutschen schwer nachzumachen. „The Pupil“ ist einerseits die Pupille, in der sich der Betrachter spiegelt, Narziss‘ Pupille. Andererseits ist „The Pupil“ auch der Schüler, Narziss sein Lehrer.


Caravaggio ~ Narziss

Die Spiegelmetapher ist an sich nicht nur eine der klassischsten, sondern auch eine meiner liebsten1. Aber das allein war nicht der Grund für den Reiz dieser Arbeit. Hier konnte ich mich zum ersten mal an der Gestaltung von Charakteren und einem Erzählverlauf üben. Die Nymphen haben es mir dabei besonders angetan. Mädchenhaft und leich naiv, aber auch irgendwie hererfrischend, schwirren sie in der Märchenlandschaft umher und tun, was sie am besten können, verführerisch sein. Ihr Spiel mit den Faunen ist ein kindliches, das aber in ihrem Bestreben danach, die Aufmerksamkeit des Weihers zu erhaschen, deutlich ausgelagert erscheint. Im Großen und Ganzen war die Geschichte perfekt, um in Reime gebunden zu werden, was sie vielleicht nicht besser macht, aber anders.

Beim Metrum habe ich mich übrigens an Heines „Deutschland. Ein Wintermärchen“ orientiert. Diese dreizeitigen Verse im Wechsel vier- und dreihebig fließen für eine märchenhafte Erzählung gerade richtig dahin.

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1. In dieser Hausarbeit spreche ich sehr ausführlich über die Spiegelmetapher und ihre Bedeutung. Die Arbeit ist, im Vergleich zu diesem Gedicht, relativ frisch.

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