Wieviele Strophen hat ein Sonett?

In vielen Literaturen kann man über das Sonett lesen, es bestünde aus vier Strophen, von denen die ersten beiden Quartette und die letzten beiden Terzette wären (Varianten inbegriffen). Andererseits taucht das Sonett als Besonderheit unter den sogenannten Strophenformen auf, woraus man schließen könnte, es bestünde lediglich aus einer einzigen Strophe, die verschiedenartig untergliedert ist oder sein kann. Wieviele Strophen hat nun aber das Sonett wirklich?

Um der Antwort auf diese Frage näher zu rücken, ist es sinnvoll, sich Gedanken darüber zu machen, was eine Strophe eigentlich per definitionem ausmacht und dann zu untersuchen, ob das, was im Sonett den Anschein macht, Strophe zu sein, dem entspricht.

“Die aus mehreren Versen bestehende, sich mehrfach wiederholende metrische Einheit eines Gedichts heißt Strophe. […] Von Strophen im strengeren Sinne spricht man, wenn diese sich durch strukturelle Übereinstimmungen in Metrum, Rhythmus und / oder Reim wiederholen”, heißt es auf einer Seite der Uni Essen. Es ist also zunächst einmal zu bemerken, dass Strophigkeit an die lautlichen Aspekte der Sprache gebunden ist und nicht etwa an die graphischen. Eine Leerzeile/ein Absatz ist also kein Indiz dafür, dass man es mit einer Strophe zu tun hat. Die strukturellen Übereinstimmungen, von denen die Rede ist, müssen hörbar sein. Eine Strophe ist also eine Einheit aus mehreren Versen, die in Metrum und Reim mit einer anderen, solchen Einheit strukturell übereinstimmt.

Daraus ergibt sich eine gewisse Logik für die Definition einer Strophe, die ich anhand verschiedener Strukturmodelle erläutern möchte. Dabei ist jeder Vers ein Element aus einem bestimmten Metrum kombiniert mit einem bestimmten Endreim. Jede Kombination wird schematisch durch einen eigenen Kleinbuchstaben wiedergegeben. Gleiche Kombinationen erhalten gleiche Kleinbuchstaben.

abababab – Ich höre eine Folge von 1 x 4 x 2 Elementen. Zwei Elemente (ab) bilden eine Einheit zu zwei Elementen (ab), die sich je viermal wiederholen. Ich höre genau eine Einheit der Struktur 4 x 2, eine Strophe.

abababab cdcdcdcd – Ich höre eine Folge von 2 x 4 x 2 Elementen. Vier Elemente (abcd) bilden zwei Einheiten zu je zwei Elementen (ab und cd), die sich je viermal wiederholen. Ich höre zwei Einheiten der Struktur 4 x 2, zwei Strophen.

abab cdcd – Ich höre eine Folge von 2 x 2 x 2 Elementen. Vier Elemente (bbcd) bilden zwei Einheiten zu je zwei Elementen (ab und cd), die sich je zweimal wiederholen. Ich höre zwei Einheiten der Struktur 2 x 2, zwei Strophen.

abab cdcd efef ghgh – Ich höre eine Folge von 4 x 2 x 2 Elementen. Acht Elemente (abcdefgh) bilden je vier Einheiten zu je zwei Elementen (ab, cd, ef und gh), die sich je zweimal wiederholen. Ich höre vier Einheiten der Struktur 2 x 2, vier Strophen.

abcabc – Ich höre eine Folge von 1 x 2 x 3 Elementen. Drei Elemente (abc) bilden eine Einheit zu drei Elementen (abc), die sich je zweimal wiederholen. Ich höre genau eine Einheit der Struktur 2 x 3, eine Strophe.

abcabc defdef – Ich höre eine Folge von 2 x 2 x 3 Elementen. Sechs Elemente (abcdef) bilden zwei Einheiten zu je drei Elementen (abc und def), die sich je zweimal wiederholen. Ich höre zwei Einheiten der Struktur 2 x 3, zwei Strophen.

Auch wenn es mir um diese Stunde (0h13′) schwerfällt, diese Logik in allgemein verständliche Worte zu fassen, denke ich, dass der Punkt, auf den es hinausläuft, klar geworden ist. Zwischen ab und ab besteht eine Identität und sie bilden maximal eine Einheit. Zwischen abab und cdcd besteht eine strukturelle Übereinstimmung und sie bilden daher maximal zwei Einheiten.

Eine Aussage über die Strophigkeit eines Abschnitts im Gedicht kann letztlich immer nur in Bezug auf die Gesamtheit des Textes gemacht werden. Folgt nach dem Abschnitt abab ein Abschnitt cdcd und endet der Text damit, liegen zwei Strophen der Struktur 2 x 2 vor. Folgt nach cdcd aber noch e, so liegt insgesamt nur eine Einheit mit drei Abschnitten (2×2) + (2×2) + (1×1) vor. Da die Struktur 1×1 nicht mit der Struktur 2×2 übereinstimmt, handelt es sich nicht um drei Strophen, sondern lediglich um eine einzige.

Das klassische Sonett weist für gewöhnlich vierzehn Verse gleichen Metrums auf (in der Regel sind es vierzehn fünfhebige Iamben), die sich lediglich durch die Endreime voneinander unterscheiden. Die Struktur der einzelnen Elemente (Metrum-Reim-Kombi) entspricht also der Struktur der Endreime. Ein schematisches Modell eines typischen Sonetts läßt sich demnach auf die Struktur der Endreime reduzieren. Das könnte bspw. so aussehen: abab abab cde cde.

Ich höre eine Folge aus 1 x 4 x 2 und 1 x 2 x 3 Reimen. Fünf Reime (abcde) bilden eine Einheit aus zwei Abschnitten (ab und cde), von denen der erste zwei Reime aufweist, die sich je viermal wiederholen und der zweite drei Reime, die sich je zweimal wiederholen. Die Struktur beider Abschnitte stimmt nicht überein (4×2 ungleich 2×3). Ich höre eine Einheit aus (4×2) + (2×3) Reimen. Das Sonett hat also nicht vier, nicht zwei, sondern lediglich eine einzige Strophe, die in verschiedene Abschnitte untergliedert sein kann.

Update vom 16.10.07: Für das Verständnis der Strophe ist der Begriff der Periode interessant. Eine Periode ist eine regelmäßig wiederkehrende, strukturelle Größe. Gibt es einen Text mit acht gleichlangen Zeilen, in dem jeder ungerade Endreim auf -ehen und jeder gerade Enreim auf -agen endet, so haben wir einen Text aus vier ab-Perioden. Kommt nun weiterer Teil mit wieder acht ebenso gleichlangen Zeilen dazu, in dem jeder ungerade Endreim auf -iegen und jeder gerade Endreim auf -osen endet, so haben wie einen Text aus vier ab- plus vier cd-Perioden, deren Struktur (Verslänge und Kreuzreimschema) identisch ist. Diese zwei strukturidentischen, aber nicht reimidentischen Perioden wären Strophen. Würden die Reimworte in den zweiten acht Zeilen nicht wechseln, so hätten wir nur eine Strophe aus acht ab-Perioden.

Kommentar abgeben: