Großer Bruder oder Psalm 23

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Großer Bruder oder Psalm 23

Der Herr ist uns Hirte und uns wird nichts mangeln,
nicht Freiheit, nicht Würde, wenn er uns behütet.
Er führt uns auf sicheren Pfaden und Angern,
und wacht über alle und alles mit Güte.

Wo immer wir wandeln, da schaut uns sein Auge,
beim Shoppen, beim Bummeln und beim Demonstrieren,
beobachtet, speichert. Er weiß, was wir taugen.
Er sieht, wenn wir heimlich auf Klo masturbieren.

Er waltet und prüft, ob wir wider ihn sprechen,
Gebote befolgen, Gesetztes zerbrechen.
Wir sind seine Sklaven, denn wir fürchten die Strafe.
Wir preisen dich Hirte, du hütest uns Schafe.

XXX | Mai 2006

Zur Entstehung

Die Idee zu diesem Text basiert auf drei Inspirationsquellen, zum einen auf dem Lied „Parannóia“ des Brasilianischen Counters Edson Cordeiro, in dem er davon singt, wie bedrückend die Erkenntnis ist, dass Gott wirklich alles sieht. Zum zweiten inspirierte mich der Gedichtwettbewerb „Lyrical I“, den der CCC im letzten Jahr veranstaltete und auf dem 22C3 auswertete. Es ging darum, ein aktuelles Thema der Hacker-Szene umzusetzen. Die Kritik an den Methoden eines Überwachsunsstaates, die im Zuge 9/11 mit dem Einverständnis aller Bürger zunehmend durchgesetzt werden, lag da nahe.


Londoner U-Bahn-Plakat, gefunden auf Signs of the Times 1/2007

Der Plan war also eigentlich komplett, aber irgendwie wollte der Text trotzdem nicht auf’s Papier hüpfen, weshalb natürlich nichts zum Abgabetermin des Wettbewerbs fertig wurde. Erst später kam mir die dritte Idee, das ganze mit der als unheilvoll geltenden Zahl 23 zu verbinden, die in der Hacker-Szene eine ganz eigene Kultur genießt. An diesem Punkt fiel mir der König David Psalm ein, der nicht besser in die Thematik hätte passen können. Ich passte also diese Quelle an meine Bedürfnisse an und entwickelte daraus, was ihr hier lesen könnt. Damit war einerseits eine alternative Interpretation des Allüberwachendes Gottes, andererseits eine politische Metapher geboren.

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10 Kommentare zu “Großer Bruder oder Psalm 23”

  1. xipulli
    Mai 28th, 2006 00:02
    1

    schönes allegorisches Gedicht. Hat mich sehr schmunzeln lassen, denn soweit ist es ja nicht weg von der alltäglichen Wahrheit.
    Gruß,
    xi

    PS: Ausführlicher Kommentar kommt irgendwann, wenn der Kongreß vorbei ist…sorry für die Kürze dieses Beitrags

  2. Metapher
    Mai 31st, 2006 15:12
    2

    Hallo!

    Zunächst einmal ein Kompliment für ein so klangsicheres Werk, welches beschwingt mit dem Daktylus daherkommt. Schön, weil nicht so oft in den Foren zu sehen. Zwei klitzekleine Kleinigkeiten bitte noch ausbessern: S2Z1: Wo/immer trennen und S3Z3 das „denn“ eliminieren und dann ist es perfekt, schlicht perfekt, Respekt.

    Inhaltlich haut es mich nicht vom Acker, denn Gott ist nicht Großer Bruder, da er vielleicht alles sieht, aber niemals petzt! Und daher sind wir auch nicht seine Sklaven und fürchten auch nicht die Strafe. Die Protestanten nicht, denn Gott sieht ihnen vielleicht hin und wieder beim Wichsen zu aber letztlich doch nur in sie hinein und vergibt jegliches Onanieren; die Katholiken nicht, denn die beten nach jedem Wichsen zwei Ave-Maria und alles ist paletti. Welchen Gott fürchten wir Schafe also?

    Wie viele Agnostiker scheint das lyr. Ich hier mehr Furcht vor dem Gott in ihm selbst zu haben, als die von ihm benannten Schafe. Mir fällt bei solcherlei Texten immer ein Bonmot ein, dessen Urheber ich leider vergessen habe: Es wird dir zwar gelingen, gottlos zu werden, aber es wird dir nie gelingen Gott loszuwerden.

    Neben diesem inhaltlichen Ausflug muss ich auch bemängeln, dass solcherlei Aufzählungsgedichte nicht viel mehr als eine Fingerübung sind, zumal für einen so offensichtlich routinierten Schreiber. Und sich dann mit Assonanzen zu behelfen und in der letzten Strophe auch noch das Reimschema zu wechseln erscheint mir dann eher einer unverständlichen Eile geschuldet, als raffinierter Überlegung. Natürlich kann man auch etwas hinein interpretieren, dass aus den kreuzgereimten Assonanzen am Ende brafe paargereimte Schafe werden … aber überzeugen tut mich das nicht, denn das ganze Gedicht ist ja von einem vermeintlichen Schaf verfasst.

    Fazit: Verpackung top, Inhalt nicht flop aber eher so lala.

    Gruß
    metapher

    P.S.: Auf Metaphorum klappt die Anmeldung nicht, was ich aber erst beim Posten dieses Kommentares bemerkte. Da er aber nun einmal geschrieben war, wollte ich ihn auch loswerden. ;

  3. LeV
    Juni 1st, 2006 12:37
    3

    Danke, Metapher, für die Schilderung deiner Eindrücke. Schade, dass dich der Text inhaltlich noch nicht überzeugen konnte. Aber vielleicht ist deine Frage, vor welchem Gott wir uns denn fürchten sollten, genau der Ansatzpunkt, um über die Thematik des Überwacht-Werdens weiter nachzudenken. Vielen Dank auch für den Hinweis auf den Rechtschreibfehler.

  4. Taurus
    Juni 20th, 2006 18:52
    4

    Hallo LeV
    Auch ich bin nicht so von dem Gedicht überzeugt, wie Metapher. Vor allem verwirren mich diese unreinen Reime in Strophe 1 und 2. Der große Bruder, weckte in mir sofort die Assosation mit Orwells Roman „1984“, und durch Metaphers Ansätze, das es einfach einen Unterschied gibt wie manche Leute Gott sehen, interpretiere ich dieses Gedicht einfach auf politischer Ebene. Somit wird hier etwas beschrieben, das uns alle Kontrolliert. Aufgrund vom „Auge“ in S.2 Z.1 würde ich auf den Dollarschein (also Geld) tippen, der unser Wirtschaftssystem wirklich stark beeinflusst, und von dem wir ja doch „kontrolliert“ werden.
    Zu anwägig?
    Lol.

    Lg
    taurus

  5. xipulli
    Juni 21st, 2006 00:00
    5

    Das ist ja alles schön und gut, allerdings geht es, denke ich weder um Gott (und wenn, dann nur in zweiter/dritter Instanz), noch um ein kontrollierendes politisches System.
    Der Punkt ist die freiwillige Unterwerfung des Individuums (lyr ich) unter einen wie auch immer gestalten Herrnnebst Überwachung und Bestrafung aber auch Sicherheit ect… Welcher es ist, das soll eigentlich nicht im Vordergrund stehen, sondern die abgöttisch geliebte Unmündigkeit des einzelnen gegenüber das ihn beherschende. Der link zum Staat ist da ganauso gegeben (Überschrift erster teil, S2), wie zu Gott (S1) oder auch einfach ein undefiniertes etwas, das sowieso dahinter steckt (Überschrift zweiter Teil)
    Zum politischen ist es ziemlich klar…”jaja, er überwacht uns bis zum getno, aber das Ding ist: Wir lieben es!”
    Um den Bogen ins politische weiterzuspannen und auf die aktuellen Datensicherheitsfus diverser Regierungen zu verweisen: Viele Trottel auf den Straßen tragen diese gern mit, in der Annahme, dass sie sowieso nie von den entsprechenden Regressionen betroffen wären…bis sie es denn sind. Dumme Schafe, die sich so leiten lassen…
    Hargh, ich sehe gerade, dass dieser Text eigentlich noch überarbeitet werden müsste, aber da ich mir nicht sicher bin, ob ich in absehbarer Zeit was ausführlicheres und besser argumentiertes zustande bekomme (sorry lev…) werde ich das hier erstmal so stehen lassen, bis die Länge der Kommentarschleife mich wegträgt oder die Hand des allmächtigen admin zuschlägt-

    Gruß vom wild-type-knockout pipetting monster
    (xi)

  6. Dieter
    Oktober 4th, 2009 12:39
    6

    Der Vortrag ist nicht so gelungen, denn der für die Liturgien typische Singasang fehlt. Damit käme das Geidhct noch viel besser rüber.
    Die Idee für das Gedicht ist cool.
    Dieter

  7. LeV
    November 2nd, 2009 17:33
    7

    Ja, das kann sein, dass ich kleiner Atheist den typischen Singsang nicht treffe. Ich weiß aber, was du meinst und nehme die Kritik dankend an.

  8. Nur ein Schaf
    Mai 21st, 2010 07:23
    8

    Lieber HerrGOTT, schau mich an!
    Bin ich würdig deiner Gnade?
    Irr‘ ich nicht auf dunklem Pfade?
    Tu ich für Dich, was ich kann?

    Bin ich gut nun, oder schlecht?
    Will vertrauend noch mein Leben,
    Deinen Händen übergeben.
    Und bitte Dich: Mache mich recht!

    Liebe schick, durch deinen Geist!
    Schenke meiner Seele Klarheit!
    Führe mich zu deiner Wahrheit,
    Die mir Glück allein verheißt!

    © 2010 Noah Noel

    Ich bin schon vielen Wölfen begegnen und trage nur ein paar kleine Narben davon. Ich fühle mich sehr behütet…
    Deine Verse sind unwahrscheinlich überzeugend, da auch einfach meisterhaft umgesetzt. Und ich kam nicht umhin, mich noch einmal mit dem Thema in mir selbst auseinanderzusetzen. Bravo!

    Herzlichst,
    Noah

  9. LeV
    Mai 24th, 2010 12:46
    9

    Ich muß gestehen, Noah, dass ich Atheist bin. Wirklich religiöse Gefühle verbinde ich nicht mit Gott und Psalm. Für mich ist das eher ein Gemeinplatz, der aber Analogien in andere Bereiche von Macht, Überwachung und Unterjochung aufweist und sich deshalb eignet, um diese Themen ganz allgemein zu besprechen. Es freut mich, wenn das zu gefallen weiß.

  10. Dissonanz
    Juni 7th, 2011 02:46
    10

    „gesetztes zerbrechen“ …. wunderbar! Sorry für meine Knappheit, doch es reicht mir zu sagen, dass ich besonders das genannte Detail wirklich sehr kunstvoll finde.

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