Der Preis des Schweigens

Als sie kamen, um die Juden zu holen, schwieg ich, weil ich kein Jude war. Als sie kamen, um die Kommunisten zu holen, schwieg ich, weil ich kein Kommunist war. Als sie kamen, um die Gewerkschafter zu holen, schwieg ich, weil ich kein Gewerkschafter war. Dann, als sie kamen, um mich zu holen, gab es keinen mehr, der für mich seine Stimme hätte erheben können.“ (Pastor Martin Niemöller)

Paragraph 129 (der Anti-Terror-Paragraph) wurde ausgeweitet, so dass nun auch als „terroristische Vereinigung gilt“, wer gemeinschaftlich Computersabotage, Zerstörung eines Bauwerks oder Brandstiftung betreibt. Promt gab es mit dieser Begründung vorgestern ein paar präventive Hausdurchsuchungen bei einer Reihe deutscher Globalisierungsgegner, die in Zusammenhang mit den Protesten zum G-8-Gipfel stehen, wie dem Berliner Solzialforum, der Antirassistischen Initiative und anderen linkspolitischen Aktivisten, wie heise berichtet. Und dem nicht genug, die Welt teilte mit, dass eine Ausweitung eben dieses Paragraphen in Planung ist. Demnach sollen nun auch Einzeltäter eine „terroritische Vereinigung“ sein dürfen und bestraft werden können, schon bevor sie terroristische Taten vollbracht haben.

Präventivstrafen, Verfassungsänderungen, Einschränkung der Freiheit und freien Meinungsäußerung (auch Kunst- und Internetzensur), Entmündigung, Überwachung, Vorratsdatenspeicherung (auch sexueller Vorlieben), Bundestrojaner, Kriminalisierung der Bürger, Schäuble, Schönbohm, Zypries, Wiefelspütz, Oettinger und Co. sprechen deutliche Worte. Dieses Blog befaßt sich mit Poetik, aber ich bin ein politisch engagierter Mensch und ich kann über diese Entwicklung nicht schweigen, während bei Freunden nebenan V-Männer eingeschleust und Rechner rausgetragen werden. Wann kommen sie und holen mich?

23 Kommentare zu “Der Preis des Schweigens”

  1. Ichichich
    Mai 12th, 2007 16:02
    1

    „Wann kommen sie und holen mich?“

    Morgen früh um 8.

    Die TITANIC hatte mal einen netten Text zur Niemöller-Seuche im Internet:

    http://www.titanic-magazin.de/index.php?id=heftarchiv00-06&f=0801%2Fheftinhalt&cHash=79e3994800

  2. Tilly
    Mai 22nd, 2007 17:53
    2

    Liebe LeV,
    mit einem Klick auf diesen Link zur Titanic habe ich nichts von dieser „Niemöller-Seuche“ gefunden. Schade! Die Person Niemöller und seine Worte sollten dennoch in Gedenken an eine finstere Zeit bleiben, gerade weil ich solche Zeiten schon wieder am Horizont sehe. Dazu waren durchaus passend Deine Anmerkungen zu den neuesten Entwicklungen zum § 129
    Gruß Tilly

  3. LeV
    Mai 22nd, 2007 18:06
    3

    Hallo Tilly, der Link zur Titanic kam ja von einem Leser und nicht von mir. Allerdings ist der Artikel, von dem der Leser spricht (Michael Klein „Ein Niemöller geht um die Welt“) wohl nicht online verfügbar, zumindest habe ich dahingehend selbst nichts gefunden. Falls der Hinweis also irgendeine versteckte Anspielung enthielt, ich habe sie nicht verstanden.

  4. ichichich
    Mai 24th, 2007 09:42
    4

    Der Titanic-Text von 2001 ging dem Niemöller-Zitat und dessen Verwendung im Internet nach. Es stellte sich heraus, dass von Kampfhunde-Besitzern („erst holten sie den Dobermann, danach den Schäferhund“ – oder so ähnlich) bis zu den üblichen ideologischen Verdächtigen links und rechts so gut wie jeder Niemöllers pathostriefendes Dammbruchargument ins Herz geschlossen hat – einfach ein paar Variablen austauschen und schon spricht ein waschechter KZ-Häftling für die eigene Sache:

    „Als sie kamen, um die Sahnejoghurts zu verbieten, schwieg ich, weil ich keinen Sahnejoghurt mochte. Als sie kamen, um den fetten Käse zu verbieten, schwieg ich, weil ich kein Käseliebhaber war. Als sie kamen, um die Butter zu verbieten, schwieg ich, weil ich lieber LÄTTA mag. Dann, als sie kamen, um mich zu holen, gab es keinen mehr, der sich für mich hätte erheben können (alle zu schwach wegen Fettmangel!).“

    Yeah!

  5. LeV
    Mai 25th, 2007 13:37
    5

    Achso, du versuchst mir also vorzuwerfen, ich ginge despektierlich und zweckentfremdend wie ein Joghurtliebhaber mit dem Niemöller-Zitat um. Welch‘ genialer rhetorischer Schachzug ist es da, dich zu diesem Zwecke hinter dem großen Namen eines Satiremagazins zu verstecken! :augen roll: Die Aneignung des Namens für deine Zwecke ist nicht unproblematischer, nur weil der Text, auf den du dich beziehst, nicht allgemein bekannt ist… :kopf schüttel:

  6. Tilly
    Mai 25th, 2007 17:45
    6

    Hallo, der Antwort von LeV zu „ichichich“ ist wohl Nichts mehr hinzuzufügen. Mir wird irgendwie übel. Pathos hin oder her. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die mir gut bekannte Satire-Zeitschrift inhaltlich in Frage stellen wollte, was uns aus einer finsteren Zeit Niemöller (als Pathos auch noch an der Tagesordnung war) mitteilen wollte. Wir dürfen nicht schweigen, damit sich solche Zeiten niemals (klingt auch pathostriefend) wiederholen! Oft schon wurde durch Austausch von Wörtern, Liedern u.ä. Gedankengut zu ganz anderen Zwecken mißbraucht. Das deutlich zu machen, könnte ich mir für Titanic eher vorstellen.
    Gruß Tilly

  7. ichichich
    Mai 26th, 2007 02:17
    7

    Nee, um despektierlich ging’s gar nicht – und hinter der Titanic VERSTECK‘ ich mich auch nicht, nur weil ich an deren Text denken musste, als ich den Beitrag hier gelesen habe. Die Äußerung zwischen den beiden Teenie-Inflektiven macht auch nicht mehr wirklich Sinn, da ich ja direkt drüber erklärt hatte, worum’s ging.

    Und apropos TITANIC: Gerade die stellen mit satirischen Mitteln lustvoll etablierte moralische Reiz-Reaktionsmuster in Frage, um die Reaktionen der Betroffenheitsbürger ausführlich zu dokumentieren. Einfach mal wieder reinlesen!

    Man hätte – um’s kurz zu machen – auch schreiben können: „Mit Kanonen auf Spatzen geschossen!“ Wer sich nicht zu schade ist, einem äußerst dünnen „me too“-Blogeintrag, der so ähnlich in tausenden anderen Blogs zu finden war, ein hoch dramatisches Zitat voran zu stellen, dessen Hautgout und moralische Unantastbarkeit das folgende Potpourri aus Heise-Schnipseln zu veredeln verspricht und das ganze noch dazu mit der Frage „Wann kommen sie und holen mich?“ verklammert, sollte sich genau das vielleicht wirklich einmal ernsthaft fragen.
    Und genau darum ging’s in diesem Fall auch der TITANIC.

  8. LeV
    Mai 26th, 2007 15:16
    8

    Wer sich nicht zu schade ist, […] sollte sich genau das vielleicht wirklich einmal ernsthaft fragen.

    Genau so ist es und dies gilt nicht nur für dich und mich, sondern auch für den Rest der braven Bürger. In welcher Form diese Auseinandersetzung passiert, ist mir (im Ggs. zu dir offenbar) weitgehend egal, aber dass etwas geschehen muß, damit sich gewisse historische Ereignisse nicht einfach wiederholen, halte ich für unausweichlich.

    Jüngst berichtete mir eine meiner engsten Freundinnen von der Durchsuchung ihrer Wohnung und vorgestern Nacht saß ich im Bundestag als ohne jede Diskussion [!] ein mehr als fraglicher Gesetzesentwurf durchgewinkt wurde, der mich und meinen Verein über Nacht kriminalisiert und sogar mit Paragraph 129a in Verbindung bringt, während wir von 6 extra für uns bereit gestellten Sicherheitsbeamten beschützt wurden. Ich weiß nicht, ob du fern von Knut und Doping-Skandal im Bilde der aktuellen Tagespolitik stehst, deshalb laß dir sagen: Die Kacke ist am dampfen! Und deine kindischen Provokationsversuche à la „Teenie-Inflektiven“ sind angesichts dessen nur noch als naiv und weltfremd zu bezeichnen.

    Da ich selbst kein politisches Blog führen wollte/will und mein Beitrag tatsächlich nur ein blasses „me too“ war, verweise ich alle interessierten Leser an dieser Stelle auf Andreas, Fefe und Marcus, die kritische Kommentatoren der derzeiten politischen Lage sind und deren Meinung ich nur voll unterstreichen kann.
    __________
    ps.: Solltest du dich zukünftig wieder durch infantile Beleidigungen gegenüber mir oder meinen Lesern derart disqualifizieren, werde ich deine Kommentare komplett ignorieren und evtl. sogar aus meinem Blog entfernen.

  9. ichichich
    Mai 26th, 2007 23:41
    9

    Es bleibt dir natürlich unbenommen, meine Kommentare komplett zu ignorieren, evtl. gar aus dem Blog zu entfernen – schließlich ist das hier dein kleines Reich; allerdings würde es mir doch Bauchgrimmen bereiten, nicht abschließend noch darauf hinzuweisen, dass ich mich ab dem ersten Kommentar ausschließlich auf die für mich problematische Verwendung des bekannten Niemöller-Zitats in diesem Kontext bezogen habe.

    Sei versichert, dass mir die aktuellen Entwicklungen in der Innenpolitik nicht egal (oder gar unbekannt) sind und dass ich deine Bedenken teile, mehr noch: dass ich politisches Engagement in diesem Augenblick für unerlässlich halte, um zu retten, was nach jahrelanger Ignoranz der Bevölkerung und unheiliger Allianz der „Volksparteien“ vom Rechtsstaat übrig ist – nur: mit welchen Mitteln? Genau darauf hatte ich mich mit meinem ersten Kommentar bezogen:

    Dem aufmerksamen Pressebeobachter wird sicher aufgefallen sein, dass gewisse Kräfte in diesem unseren Lande seit Jahren unermüdlich den „konservativen Rollback“ predigen, der nötig, aber – noch wichtiger – schon längst gestartet worden sei: die Assoziation der Unabwendbarkeit. Bemerkenswert oft wird sich in Debatten dabei der Metapher der „schiefen Ebene“ bedient – und zwar auf beiden Seiten: Konservative befürchten Zustände wie bei Hempels unterm Sofa, die sicher eintreten, wenn nicht (wieder) Zucht und Ordnung herrschen – das Leben, ein Kasernenhof (jedenfalls für Kapitalschwache), Bürgerrechtler dagegen kontern mit gar grausigen dystopischen Skizzen, die meist einer Mischung aus „1984“ und der NS-Zeit entsprechen. Das Niemöller-Zitat ist dabei die Literatur gewordene „schiefe Ebene“.

    Was dann – jenseits der Talkshows, Feuilleton- und Weblogartikel – passiert, hast du ja neulich erlebt: Gesetze werden ohne Debatten und viel Aufhebens durchgewunken; nicht weil Parlamentarier grundsätzlich ignorant oder von den jeweils aktuellen Wahnvorstellungen besessen wären, sondern weil sie dank Privilegien und der faktischen Unmöglichkeit der Abwahl (jedenfalls bei CDU und SPD – entweder Regierung oder Opposition, aber definitiv nicht macht- und geldlos) in einer „Realitätsblase“ leben: Arbeitslosigkeit, Schikane, Repressalien, Überwachung, Demonstrationsverbot etc. – all das sind Dinge, die auf dem Radar der meisten Parlamentarier gar nicht vorkommen, wovon sie nie betroffen sein werden.

    Um nun wirklich etwas an den aktuellen politischen Verhältnissen zu ändern, ist es definitiv wenig hilfreich, bei jeder sich bietenden Gelegenheit das Schreckgespenst des Nationalsozialismus zu beschwören – der Effekt nutzt sich nämlich ab, im Extremfall so sehr wie beim Jungen, der einmal zu oft „Wolf!“ gerufen hat. Außerdem erweist man damit den Propagandisten des Sicherheitsstaates und deren verzerrter Realitätsvorstellung eine Ehre, die ihnen nicht gebührt: man unterstützt sie, indem man eine eigene diametrale Wahnvorstellung aufbaut. Die Realität ist viel banaler: Wiefelspütz und Zypries machen beim Kacken genau so die Beine krumm und schmieren sich morgens LÄTTA auf’s Brot – und könnten in einer funktionierenden Demokratie, im Idealfall mit imperativem Mandat und Elementen der direkten Demokratie, gleich morgen abgewählt werden.

    Auf dem Weg dorthin braucht es aber vor allem eines: Augenmaß. Und einen kühlen Kopf. Kurzfristige Ausrichtung an dem, was machbar ist (Demos, Petitionen, Aktionen), langfristige Orientierung an dem, was machbar sein könnte (vor allem bei der nächsten Bundestagswahl). Alles andere spielt den Architekten des „starken Staates“ in die Hände, deren Vertreter bienenfleißig in den Ministerien arbeiten – ungestört von der Bühnenshow, die Clowns wie Wiefelspütz und Konsorten abziehen.

    Sela, Psalmenende.

  10. Dieter
    Mai 27th, 2007 14:40
    10

    ok ich³, du machst dir auch Sorgen. Aber bisher haben wir von dir nichts weiter mitbekommen, als dass du jemanden der sich auch Sorgen macht und diese einer, wenn auch kleinen, Öffentlichkeit mitteilt, torpedierst. Du schreibst so schön… wie soll ich sagen… geschickt? Oder poetisch? Ich hab leider nicht soviele hübsche Worte auf Lager, ist manchmal echt schade. Aber sag mal, was tust DU?

  11. LeV
    Mai 27th, 2007 16:10
    11

    @ich3: Ich kann deine Bedenken*1 vor der Abnutzung nachvollziehen, sowohl vor der Abnutzung von Worten*2 als auch vor der Abnutzung von Vergleichen. Der Vergleich zu Methoden von Diktaturen und destopischen Polizei- und Überwachungsstaaten drängt sich mir aber unweigerlich auf. Ebenso geht den Breitenmedien gerade ein Licht auf, die sich an die Geruchsproben der Stasi erinnern. Welche Außenwirkung das bei anderen Staaten erzielt, hat Merkel gerade von Putin erklärt bekommen und plötzlich findet auch Schäuble brave Demonstranten wieder ganz toll – ein kurzer Lichtblick in der sonst so trüben Aussicht.

    Aber gerade die Klage wegen derzeitiger Bedingungen und die Angst vor einer weiteren Verschlechterung sind es ja, die einen wie blöde Demos organisieren, Petitionen und Klagen beim BVerfG einreichen, Briefe an Polizeipressesprecher schreiben, Interviews geben und Wahlmaschinen auseinandernehmen lassen. Ich habe mir dahingehend bei Leibe nicht zu wenig Engagement vorzuwerfen. Aber darüber zu berichten paßt thematisch (eigentlich) nicht in dieses Blog, weshalb ich in der Zwickmühle bin. Nicht auch hier darüber zu sprechen, käme einem Schweigen gleich, zu schweigen liegt mir aber völlig fern, weil es nicht meine Art ist, auch nicht um der Kunst willen – daher das Niemöller-Zitat*3. Ich dachte einfach, dass es eine gute Brücke zwischen Poetik und Politik schlagen würde.
    __________
    1. Ohne dieses billige Rumgeflame komme ich auch bestens mit deiner Kritik klar, ohne mich aus Selbstschutz zur Ignoranz zwingen zu müssen. Ich mag mich einfach nicht auf unterstes Niveau begeben und du hast das offenbar und erfreulicherweise auch gar nicht nötig. 😉

    2. Ich habe meinem Mann bspw. noch nie „Ich liebe dich“ gesagt, obwohl ich genau das tue. Aber der Satz ist einfach so abgegriffen, dass man ihm keinerlei Ernsthaftigkeit oder Wahrheitsgehalt mehr zutrauen würde.

    3. Vielleicht kannst du mir den Titanic-Artikel ja mal einscannen und per Mail schicken, damit ich endlich selbst lesen kann, was die dazu meinen.

  12. ichichich
    Mai 30th, 2007 17:36
    12

    Es ging weniger um linguistische Feinheiten als darum, dass sich solche Meme oder gar Memplexe (Konzept „Sicherheitsstaat“ und dessen Unabwendbarkeit) ins Denken einschleichen, selbst oder gerade bei denen, die sich vehement dagegen aussprechen. Eine nicht repräsentative Kurzumfrage unter meinen Kommilitonen brachte Erschreckendes hervor: Ein Großteil der so entschlossen und selbstbewusst dreinblickenden Mittzwanziger krakelte munter, dass das Pendel nun wohl zurückschwinge, Kapitalismus und Faschismus auf dem Vormarsch, Demos schön und gut, aber besser schon mal einen Platz auf der Galeere sichern, prostata, ein nicht unerheblicher Teil holte sich gleich darauf ein neues Bier.

    Wie munter solche Hirnsamen aufgehen können, zeigt ein Interview mit der vergleichsweise doch recht nüchternen Generalbundesanwältin Monika Harms neulich im SPIEGEL (1), die sich zwar auch besorgt über die aktuellen Entwicklungen gibt, aber orakelnd anfügt: „Sie werden die Gesamtentwicklung nicht aufhalten.“ Langsam sollte man vielleicht das Trinkwasser überprüfen, ob nicht – „Batman begins“ lässt grüßen – angstinduzierende Halluzinogene munter in die Leitung gekippt werden.

    Aufgehalten werden können vermeintlich unaufhaltsame Dinge nur dann nicht, wenn an ihre Unaufhaltsamkeit geglaubt wird – was genau der Sinn der Propaganda ist. Wie im platonschen Höhlengleichnis werden am Feuer gar schreckliche Dinge vorbei getragen, Jens Riewa liest dazu freundlich vor: „All diese Dinge sind real, haben sich naturgemäß so ergeben, müssen hingenommen werden. Und bezahlt. Und nun zum Wetter.“ Das ist bullshit, der von denjenigen, die sich oben in der Sonne aufhalten und soviel Zeit haben, dass sie damit aasen können (Tucholsky) und deren medialen Helfershelfern in der Höhle inszeniert wird.

    Sich dagegen zu wehren, ist schwer: Es heißt zuerst, diese Mechanismen zu erkennen – und danach, wo immer es möglich ist, anders zu handeln, als erwartet und vorgegeben wird. Beispiel Heiligendamm: In der ersten Juniwoche nicht hingehen, sondern massive Flashmobs in deutschen Großstädten abhalten. Im „Kaufhof“ sehen 100 Leute gleich viel lustiger aus als 10000 auf einer Wiese in Ostdeutschland. Beispiel Arbeitsmarkt, speziell Praktika für Uniabgänger: Einfach mal konzertiert – Geld gibt’s ja meist ohnehin keins – mit etlichen anderen, man kennt sich ja, eine Woche blau machen, nachdem man eingearbeitet worden ist und gebraucht wird. Auf das eine Arbeitszeugnis unter vielen kann man pfeifen.

    Wie still alle Räder stehen können, wenn genügend Bürger das nur wollen, haben französische Jugendliche vor kurzem mit ihrem Praktikantenstreik wieder deutlich gemacht. In Deutschland hätte man treuherzig Kirchen und Gewerkschaften um Erlaubnis gefragt und wäre unter Glockengebimmel am Sonntagnachmittag durch die Fußgängerzone gewallt. Müll noch weggeräumt, morgen geht’s wieder zur Arbeit. Damit kann umgegangen werden, das wird freundlich in der „Süddeutschen“ gelobt werden als „engagierte Jugend“.

    Aber, Dieter, sag‘ das mal deinen Bekannten: Die werden dich ganz entgeistert anschauen – jeder Freund ein Streikbrecher, jeder Kommilitone ein Kollaborateur, jeder kopfschüttelnde Passant ein Sympathisant. Warum so weiter wie bisher? „Weil’s alle machen!“, „Ich muss auch Geld verdienen!“, „Was will man machen …“ Ja eben, was will man machen, wenn man ganz gerne eine andere Gesellschaft hätte, aber doch weiter die Annehmlichkeiten der bisherigen genießt. Viele französische Streikende waren bereit, auf dem Zahnfleisch zu laufen für ihre Belange, runter bis „2000 kcal am Tag und ein Dach über dem Kopf“, um den Staat zu zwingen, der bewusst auf Zeit gespielt hat. Dafür braucht es Unterstützung, Solidarität aus der Bevölkerung. Die kann man nur erlangen, wenn man auf sich aufmerksam macht, aufrüttelt, Sympathie erweckt. Das gelingt nicht im „schwarzen Block“ auf der von Bullen eingekesselten Demo. Auf Dauer werden Veränderungen gesamtgesellschaftlich nur durch Aufklärung möglich sein: In Dreiergruppen durch die Fußgängerzone laufen mit Flugblättern und den Bürgern ein paar Fakten liefern. Es ist nämlich ein Irrglaube, dass jeder kritische Websites liest und politisch gebildet ist. Für die meisten ist schon die „tagesschau“ zu anspruchsvoll. Das sind aber alles Wähler. Und so leicht wie eine Großdemo könnten solche Aktionen auch nicht verboten werden. Frag‘ aber im Bekanntenkreis, wer bereit wäre, mitzumachen – „keine Zeit, sieht so dämlich aus, was bringt das, das gibt bestimmt eine Anzeige, wenn mich mein Arbeitgeber in der Zeitung sieht …“.

    Ich setze meine Hoffnung trotzdem weiter in politische Flashmobs, deren Potential anscheinend überhaupt noch nicht erkannt worden ist. Organisierte Demos, wenn nicht gerade Not am Mann ist und es Schlimmeres zu verhindern gilt, sind vergebene Liebesmüh‘. Das wird niemand honorieren. Diese Volksaufzüge, die genau so in Trachten oder Uniformen abgehalten werden könnten, erinnern mich immer an eine Szene aus „Life of Brian“:
    „You don’t need to follow anybody. You’re all indidivudals!“
    „Yes, we’re all individuals!“

    Flashmobs und Arbeitsverweigerung. Vielleicht würde das manche erkennen lassen, dass es nicht ihr Geld ist, das für sie arbeitet. „Hundert-Euro-Scheine, gefüllt mit erlesenem Kleingeld“ dürfte auf Dauer ziemlich fad schmecken.

    (1) http://www.spiegel.de/spiegel/0,1518,485007,00.html

  13. ichichich
    Mai 30th, 2007 17:48
    13

    Hier noch der literarische Absacker von Tucholsky:

    Die Kinderstube

    »Bäh!« sagte die ganze Runde. »Bäh! Caspar, bäh!«

    – Und: »Hats weh getan? Hats weh getan? Nu seht euch bloß den Caspar an! Bäh, Caspar, bäh!«

    Caspar stand in der Mitte des Kinderkreises und schnitt ein finsteres Gesicht. Er verstand die Welt nicht mehr. Die Sache war so gewesen, daß der Lehrer, ein roher und dummer Patron, die ganze Gesellschaft noch immer mit kurzen Hosen herumlaufen ließ, sie duzte und durchaus wie kleine Kinder behandelte. Sie waren aber schließlich aus den Kinderschuhen heraus, da waren Achtzehnjährige dabei, und einer war sogar schon zwanzig. Aber das ließ man nicht gelten . . .

    Und nun hatte Caspar einmal dem Lehrer gehörig seine Meinung gesagt: er könne es nicht länger mit ansehen, wenn immer nur die Keile kriegten, deren Eltern nicht soviel zahlen konnten, wenn Herr Wachtmeister – so hieß der Lehrer – sie alle abkanzelte, als ob sie kleine Jungens wären, wenn er seine Nase in alles steckte . . .

    Der Caspar hatte einen glühendroten Kopf bekommen, denn er dachte natürlich, die ganze Mehrheit hinter sich zu haben . . .

    »Was!« hatte aber da der Herr Wachtmeister geschrien, »waas?! – So ein rüdiger Lümmel! Los!

    Sabojetzky, Lammers, Kammerbach! Haltet den Kerl fest, ich werde ihm das Fell versohlen!«

    Und richtig; sie hatten ihn festgehalten, ihn, der doch ihre Freiheit wollte, und dann hatte Herr Wachtmeister seinen Rohrstock hervorgeholt und hatte geschlagen: eins, zwei, drei, vier . . . – bis fünfundzwanzig! – Und sie hatten gelacht, gejohlt, mitgezählt und sich unbändig gefreut . . .

    Er hörte noch dieses Lachen, das viel mehr schmerzte als alle Prügel der Welt. Sie hatten gelacht . . . Ja, wußten sie denn nicht, wie alt sie eigentlich waren, wußten sie denn nicht, daß es draußen in den anderen Straßen Jungens im gleichen Alter gab, die lange Hosen anhatten und denen kein Wachtmeister mehr etwas zu befehlen hatte? Wußten sies nicht?

    Oder wollten sies nicht wissen?

    Denn immerhin: es hatte seine Vorteile, so als kleiner Junge behandelt zu werden. Zum ersten hatte man keine Verantwortung zu tragen, berief sich einfach auf Herrn Wachtmeister, ders so befohlen hatte, und war den ganzen Zimt los. Und dann . . . die Geschichte mit den Reichen . . . Wäre Herr Wachtmeister nicht gewesen, die ärmeren Jungens hätten sich längst zusammengetan und hätten die vier »Reichen« (wie sie allgemein hießen) zusammengehauen. Denn die nahmen den Armen noch ihr Letztes, wenn es so in ihren Kram paßte, sie ließen sich vorn und hinten bedienen und zahlten schlecht und manchmal gar nicht . . .

    Einmal hatte man versucht, sich aufzulehnen, aber da war der Herr Wachtmeister dazwischengesprungen, der immerhin an den Eltern der »Reichen« viel verdiente, und hatte den Armen noch eine Tracht Prügel extra gegeben . . .

    »Bäh, Caspar, bäh!« schrien sie noch immer. Da raffte sich Caspar auf.

    »Kinder«, rief er, »der Wachtmeister hält jetzt seinen Mittagsschlaf. Wir können also nicht gehört werden. Kinder, werft diesen Menschen heraus! Seht ihr nicht, wie er uns alle quält, wie er uns einzwängt, wie er sich der vier ›Reichen‹ gegen die fünfundneunzig Armen annimmt, wie wir nie, nie, nie zu etwas kommen, solange dieser Mensch im Hause ist? Werft ihn heraus, Kinder, wir sind . . . « Aber er konnte nicht weitersprechen. Eine schwere Hand legte sich auf seine Schulter.

    »So?« sagte eine fette Stimme, »so? – Und was soll denn aus mir werden?« Es war der Anstaltspfarrer, Herr Kriechkriecher, der heimlich, wie das seine Art war, gelauscht hatte . . .

    »Sie müssen auch heraus!« sagte der Junge eifrig.

    »Sie sind ebenso schlimm. Sie sind schlimmer, denn Sie umkleiden alles mit einem frommen Spruch!«

    »Hülfä! Räbällion! Hülfä!« schrie der Pastor, und sein wehender Rock verschwand durch die Tür.

    »Jungens«, rief Caspar, »noch ists Zeit. Wer steht zu mir?«

    Sie rührten sich nicht.

    Ins Zimmer brachen Herr Wachtmeister und seine Leute. Der Pastor stand im Hintergrund und betete, während die dicken Hiebe der Peitschen auf Caspar klatschten. Er brach zusammen.

    *

    »Das Bürgertum«, schrieb die »Kreuz-Zeitung« einmal, »hat alle Ursache, diese Wahlniederlage der Roten mit Befriedigung zu begrüßen.«

  14. LeV
    Mai 30th, 2007 22:01
    14

    Demos schön und gut, aber besser schon mal einen Platz auf der Galeere sichern

    Ich glaube nicht, dass sich alle Kritiker des 1984-Mems insgeheim schon mit dem Überwachungsstaat abgefunden haben, wie es in deinem Kommentar rüber kommt. Sicherlich macht sich bei vielen Aktivisten bereits Resignation breit (ich merke es an mir selbst). Der Gedanke an Exil, der unter den Meinigen im moment noch ein eher humorvoll gehandelter Diskurs ist (Elite sucht Staat via su-shee 2.0), gibt den Blick auf eine tiefe Verzweiflung frei. Man möchte das Land ja nicht verlassen müssen, man möchte darin leben können und dafür lohnt es sich auch zu kämpfen. Die sich drastisch zuspitzende Situation spornt also auch zu mehr/neuer Aktivität an. Denn wer zukünftig so weiterleben möchte wie bisher, der wird handeln müssen, sonst ist es einfach vorbei mit der schönen Zeit.

  15. ichichich
    Juni 15th, 2007 00:14
    15

    Kleiner Nachtrag zum Aktionspotential von Flashmobs – und wofür sie von grenzdebilen Jugendlichen eingesetzt werden:

    http://www.youtube.com/watch?v=hOnlimjyO5c

    Da einen kleinen „twist“ reinbekommen, vor allem anfangs nicht zu viel verlangen, keine Bindung, Verantwortung, Gott nein, damit würde man die kosmopolitischen urban teens verschrecken: Einfach nur dieses Solidargefühl ausnutzen, um damit etwas, man scheut sich beinahe es, zu sagen, „Gutes“ zu tun, von mir aus eher symbolisch. Wie das abgehen könnte …

  16. LeV
    Juni 15th, 2007 02:38
    16

    Entschuldige, irgendwie kann ich dir nicht mehr folgen. Du sprichst in Rätseln. Falls du irgendwelche Anspielungen gemacht hast, die deine Kritik oder Zustimmung zum Ausdruck bringen sollen, so expliziere sie doch bitte für mich. Denn ich habe wohl eine unterbewußte Sperrung dagegen, innerhalb sachlicher Diskussionen Anspielungen zu verstehen. Vermutlich eine sprachpragmatische Inkompetenz meinerseits, drum bitte hab Nachsicht mit mir!

  17. ichichich
    Juni 15th, 2007 10:27
    17

    Eine unterbewusste Sperrung – schön gesagt. Ich hatte doch weiland – treue Leser werden sich erinnern – meine Hoffnung zum Ausdruck gebracht, dass alternative Protestformen dereinst tumbe (und vor allem abgesegnete) Großdemos ablösen könnten.
    Im Video zeigt sich, dass hunderte von Jugendlichen bereit sind, sich stundenlang die Beine in den Bauch zu stehen, nicht etwa, um ihre Lieblingsband zu sehen, nein – sondern, um im Internet verkünden zu können, dass man die Burgerbestell-Konkurrenz aus Zwickau geschlagen hat. Um 100 Burger. Oder so. Dieses, genau dieses Aktionspotential für politische Zwecke nutzen, wäre der Hammer. Aber dafür würden sich vermutlich nicht genug Leute finden.
    Vielleicht sollte man einen Trick anwenden: Im Internet dafür werben, heute abend den Burgerbestell-Rekord aus Zwickau zu brechen, um dann vor Ort gegen unbezahlte Praktika zu demonstrieren. Da würden wahrscheinlich die meisten fliehen: „Iih, eine politische Demo! Wir hatten vor, drei Stunden auf einen Burger zu warten!“ Neulich in „Report aus Mainz“ gesehen, dass unsere fabelhafte Regierung ein Gesetz verabschiedet hat, mit dem es möglich ist, Jugendlich mehr oder weniger umsonst arbeiten zu lassen (8 Euro pro Tag) – als Praktikanten eben. Natürlich war – wie das so üblich ist, honni soit qui mal y pense – nie damit gerechnet worden, dass das Gesetz so schamlos von Arbeitgebern ausgenutzt werden könnte. Aber Handlungsbdarf sieht auch niemand.
    Genau diese Jugendlichen aus dem Clip hätten allen Grund zu demonstrieren. Die Hemmschwelle, sich in dem Alter einer politischen Organisation anzuschließen, ist zu groß – außerdem sind Gewerkschaften und Jugendorganisationen von Parteien zu Recht als Laberveranstaltungen bekannt. Flashmobs sind eine Möglichkeit, ohne jeglichen Vorlauf, ohne Hierarchie, spontan seinen Unmut kundzutun. Schau dir den Clip an! Die haben Motivation, Idealismus und Durchhaltevermögen. Und nutzen es, um halb ironisch, halb stolz die Götter anzubeten, die sie unterdrücken.

  18. LeV
    Juni 15th, 2007 16:09
    18

    Ich weiß nicht, ob es nicht voreilig ist, anzunehmen, dass nicht genau diese Jugendlichen, die solchen Burgeraktionen beiwohnen, nicht an anderen Tagen zu anderen Zeiten auch Bürgeraktionen machen. Aber dies sei mal dahingestellt, ich weiß, was du meinst. Ich finde den Ansatz, alternative Protestformen zu entwickeln, sehr unterstützenswert. Ich habe nicht umsonst das Manifest der Hedonistischen Internationalen (übrigens sehr lesenswert) in meiner Blogroll verlinkt. Die Clownsarmee, die sich so spaßig an den Demos in Heiligendamm beteiligte, war großartig und der Slogan der Bergpartei, „Spaß kann auch Politik machen“, hatte mich damals für diese Leute eingenommen. Es ist Zeit sich von der bornierten Parolendrescherei zu befreien und kreativ mit dem eigenen Protest umzugehen – alles andere festigt nur die traditionellen Fronten. Dahingehend meine volle Zustimmung.

  19. ichichich
    Juni 15th, 2007 20:30
    19

    Wobei die Clownsarmee ziemlich grenzwertig aufgetreten ist bei den Protesten rund um Heiligendamm.
    Klar geht es darum, durch Verfremdung der Symbole der Macht diese in Frage zu stellen, es wurde auch davon geredet, dass die Clowns das linke Deeskalationsteam sein sollen – aber stell‘ dir vor, du hast Urlaubssperre bekommen, musst bei der Hitze in schwerer Ausrüstung herumstehen und vor dir hüpfen verkleidete Gestalten in Uniformen herum, die ganz offensichtlich dich, deine Position und deinen Beruf in Frage stellen bzw. lächerlich machen.

    Oder, halt! – stell dir vor, die Polizei schickt zur nächsten Großveranstaltung eine verkleidete Einheit, die „Hippiearmee“, komplett mit Dreadlocks und „PACE“-Fahnen, dazu noch ein paar abgestellte Beamte in Kampfmontur, die diese symbolisch niederknüppeln, Lautsprecherdurchsagen wie „Lacht doch mal!“ rundeten das Ganze ab. Wobei da durch die größere Perspektive, die Einbeziehung der eigenen Seite, noch das Element der zynischen Selbstkritik gegeben wäre.

    Dieses selbstkritische Element, nicht bezogen auf gewalttätige Teilnehmer der Demos, sondern in Bezug auf die Rolle, die man in diesem Medienzirkus gespielt hat, die Ideale, die man sich angemaßt hat zu vertreten, indem man todesmutig durch Haferfelder stapft, kurz: die Thematisierung der Lächerlichkeit dieses ganzen Unterfangens hat mir irgendwie gefehlt bei Vertretern der Linken. Für die meisten war – wie gesagt, mit Ausnahme der Kritik am „Schwarzen Block“ – ganz klar, wer die „Guten“ sind.

    Die Protestformen der „Clownsarmee“ waren legitim, mehr als das: hocheffektiv, wie man an der Gegenpropaganda ablesen konnte – Seifenblasenwasser wurde zur „Chemiewaffe“ -, offensichtlich wusste man nicht recht umzugehen mit einer Gruppierung, die sich bewusst nicht ins Freund/Feind-Schema hat einpassen lassen. Aber es soll mir bitte niemand erzählen, dass man nicht im Traum daran gedacht hat, dass solche Aktionen auch Aggressionen auslösen können. Dafür waren dann doch zu viele Sozialpädagogik-Studenten unter den Verantwortlichen. Den Beamten vor Ort war es im Gegensatz zu den Demonstranten eben nicht möglich, die Situation auf einer Meta-Ebene zu diskutieren, ihr Verhalten zu überdenken – oder einfach zu gehen. Paradoxe Handlungsaufforderung (Vorgesetzte: Um jeden Preis Sperrgebiete sichern; Demonstranten: einfach mal Pause machen, sich nicht so ernst nehmen), Unerfüllbarkeit und Unmöglichkeit, die Situation zu verlassen. Klassisches „double-bind“. Hat natürlich niemand so geplant. Man wollte nur spielen. Und das „Gute“.

    Wie gesagt: Hut ab vor dieser Protestform. Davon wird es hoffentlich in Zukunft mehr geben. Allerdings befürchte ich, dass selbst Beteiligte noch Reste des „Wir, die Guten mit den legitimen Zielen – die, Handlanger des unmenschlichen Systems“-Denkens in ihren Hirnen haben. Es geht einzig und allein um den Kampf an der Medienfront. Wer dominiert? Wer demütigt den anderen kameragerecht? Und da ist die Clownsarmee eine schlagkräftige Kampftruppe. Die den immensen Vorteil hat, bei Gegenwehr rehäugige Studentinnen mit Clownsnase und Platzwunde in die Kamera schluchzen lassen zu können: „Aber wir sind doch nur Clowns!“

  20. LeV
    Juni 15th, 2007 21:19
    20

    [quote]Den Beamten vor Ort war es im Gegensatz zu den Demonstranten eben nicht möglich, die Situation auf einer Meta-Ebene zu diskutieren, ihr Verhalten zu überdenken – oder einfach zu gehen.[/quote]Au contraire. Möglich war es auch den Beamten jeder Zeit, aber zu gehen wäre für die natürlich unbequemer als für die Demonstranten.

    Ich glaube aber nicht, dass es den Clowns um die Demütigung der Beamten ging. Es ging darum die Situation zu konterkarrieren, den Blick auf die Absurdität freizumachen, einen Kanal zu schaffen – auf beiden Seiten.

    Ich war leider nicht vor Ort, um das Auftreten der Clowns näher zu beurteilen, aber ich gehe davon aus, dass es sicher den einen oder anderen Beamten gegeben hat, der sich dadurch provoziert gefühlt hat, weil eben nicht jeder die Selbstbeherrschung in Person ist. Das steht aber sicherlich in keiner Relation zu einem steineschmeißenden „Schwarzen Block“, dessen Protestform ich auf’s schärfste veruteile.

    Provokation kann durchaus eine Form des kritischen Diskurses sein. Die Kunst ist es, sich nicht provozieren zu lassen. Das können eben viele noch nicht.

  21. ichichich
    Juni 16th, 2007 00:25
    21

    Unbequem ist wohl das falsche Wort. Ein Disziplinarverfahren wäre das Minimum. Das ist kein Impro-Theaterstück wie für die „Hedonistische Internationale“.
    Im Gegensatz zu den Vietnam-Demos mit den blumenverteilenden Demonstranten, an die sich ja von der Symbolik angelehnt wurde, dürfte von den 16000 Beamten kaum jemand davon überzeugt gewesen sein, dass ihr Anliegen, nämlich ein Treffen von Staatsmännern und -frauen zu schützen, an sich sinnlos ist. Dieser größere Kontext, der aber nötig wäre, um „einen Kanal zu schaffen“, fehlt. Wie hätte der auch aussehen sollen? Abgesehen von den berüchtigten Spezialeinheiten aus Bayern und Berlin dürften die meisten Beamten vor Ort, die, wie der Spiegel ja höhnisch berichtete, teilweise zusammen mit den „Globalisierungsgegnern“ beim Mc Donald’s anstanden, nicht unbedingt heiß darauf gewesen sein, Demonstranten zusammenzuknüppeln. Man hat dank der Bilderflut allerdings durchaus einen Blick auf die Absurdität, die Realitätsferne der Gipfelgegner, die sich in Hase-und-Igel-Spielen („Wir war’n am Zaun! Wir war’n am Zaun!“, Greenpeace-Leistungsschau) manifestierte, freigemacht, herzlichen Glückwunsch.

    Wenn das als Ausweis für die neue „Politisierung“ dienen soll, dann gute Nacht. Wenn der G8-Gipfel, wie man auf Seiten der Gipfelgegner im Vorfeld nicht müde wurde zu erklären, sinnlos und inhaltsarm ist, warum verleiht man ihm durch die eigene Anwesenheit soviel Bedeutung, warum lässt man sich auf Spielfeld und Symbolsystem der Staatsmacht ein, warum macht man als telegene Manövriermasse den Gipfel zum „Event“, über dessen Umfeld Medienanstalten dankbar berichten können, statt gezwungen zu sein, über die dünnen Inhalte zu berichten, warum gibt man Sicherheitspolitikern bereitwillig Futter für ihre nächste Argumentationsrunde im Parlament, warum schlussendlich begibt man sich wie die letzten Hinterwäldler als riesige Masse in ein unübersichtliches städtisches Operationsgebiet, welches von der Polizei wochenlang sondiert und analysiert wurde, wo sich bereits ein paar brennende Barrikaden als „Bürgerkrieg“ verkaufen lassen, wo dank Deutungsmacht und Unübersichtlichkeit wunderbar Propaganda betrieben werden kann (siehe falsche Verletztenzahlen), statt die Lage abkühlen und Schäuble dämlich da stehen zu lassen (100 Mio. sind ziemlich viel Schotter, wenn keine Demonstranten kommen) und eine Woche nach Gipfelende in städtischen Gebieten ohne Ausnahmezustand mit Fahrraddemos, Flashmobs sowie spontanen Kundgebungen alles lahmzulegen?

    Da wären keine Spezialeinheiten, keine Wasserwerfer, kein juristischer Ausnahme-Modus, unter dessen Deckmantel sich vieles verharmlosen lässt, keine eingeschränkte Bewegungsfreiheit, keine Demoleitung, die freundlicherweise mit den Einsatzkräften zusammenarbeitet. Statt Ungerechtigkeit und Unterdrückung in Open-Air-Festspielen abstrakt und extrem masochistisch zu choreographieren, hätte man die Möglichkeit gehabt, ohne Gewalt und äußerst effizient die „soft spots“, Innenstädte, Kaufhäuser, Straßen und Fußgängerzonen zu nutzen, sich blitzschnell wieder aufzulösen und die Ordnungsfreaks so richtig schön zu ficken. Gut, man kann natürlich auch mit dem Kopf immer wieder gegen die Wand rennen, dabei mit erhobener Faust „Die Internationale“ schmettern und mit Tränen in den Augen verkünden, dass diese Schweine jeden blauen Fleck bitter bereuen werden, wenn erst mal – rumms! rumms! – diese verbrecherische Mauer beseitigt ist, bange machen gilt nicht, sonst haben sie gewonnen.
    Jedem das Seine.

    Der Zirkus kam mir vor wie eine Schulklasse, die gegen den Lehrer aufbegehren will, sich aber nur so richtig wohl, solidarisch und im Recht fühlt, wenn dieser mit dem Rohrstock austeilt. Dabei ist die größte Leistung, die offene Tür zu übersehen – und die Tatsache, dass längst keine Schulpflicht mehr herrscht. Aber dabei helfen gerne jene Klassenkameraden, die seltsamerweise, obwohl sie doch die größte Klappe haben und lautstark davon reden, dass man für einen besseren Unterricht sorgen wolle, vom Lehrer bevorzugt werden und zu Weihnachten nette Karten bekommen.
    Die Tür, so der Vertreter des Schülerkollektivs, sei eine Illusion, aufgemalt von der Schulleitung, um vom Kampf abzulenken.

    „Die Kunst ist es, sich nicht provozieren zu lassen. Das können eben viele noch nicht.“ Ach.

  22. LeV
    Juni 16th, 2007 12:36
    22

    Na ja, ich hätte dem Ganzen nicht die Aufmerksamkeit geschenkt, hätte es nicht im Vorfeld so viele bedenkliche Verbote der Versammlungsfreiheit gegeben. Die Versammlungsfreiheit ist eines der Grundrechte und in unserer Verfassung verankert. Der Sicherheitszaun, der die Staatskasse allein 12 Mio. gekostet hat, war bereits Grund zur Hab-Acht-Stellung. Aber die Sicherheitszone und die Sicherheitszone um die Sicherheitszone, die Hausdurchsuchungen*1 bei G-8-Gegnern, die zahlreichen Verbote bereits angekündigter Demos – all das waren nicht nur Provokationen, es waren Einschüchterungsversuche und Beschneidungen unserer Grundrechte. Natürlich wollte jeder der erste am Zaun sein.
    Die Repressionen in Heiligendamm sind aber nur ein Teil einer ganzen Serie staatlicher Entscheidungen, die aus Sicht unserer Verfassung bedenklich sind. Ich erinnere da an Stichworte wie „Rasterfahndung“, „Vorratsdatenspeicherung“, etc. Ich für meinen Teil erkenne da einen Trend, den es aufzuhalten gilt, denn wie heißt es so schön in Artikel 20 GG: „(3) Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden. (4) Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.
    Ich für meinen Teil bin ein Befürworter unserer Verfassung und deshalb kann jede Protestform, an der ich mich beteiligte, nur eine sein, die die Grundrechte anderer nicht gefährdet. Zu anderen Formen des Widerstandes möchte ich nicht gezwungen sein. Bevor ich eine Waffe in die Hand nehme, sichere ich mir, wie du so schön sagtes, lieber den Platz auf der Gallere.
    __________

    1. Polizeisprecher erzählten, sie hätten in den durchsuchten Räumen, Wecker und Draht gefunden, die Utensilien für den Bombenbau sind. Als es neulich vor meiner Tür einen SEK-Einsatz bei den Hells Angles gab, trugen die da Maschinengewehre und Raketenwerfer raus. Man muß sich mal die Relationen vorstellen! Ich meine, ich habe auch Wecker und Draht zu hause und noch nie auch nur ansatzweise daran gedacht, mir daraus eine Bombe zu basteln.

  23. Rholand Richter
    Juni 14th, 2012 09:22
    23

    Man sieht doch auch, wie es jetzt in den USA ist, da wurde ein „Ermächtigungsgesetz“ erlassen.
    Obama meinte dazu nur, er würde dies nicht gegen seine Landsleute einsetzen…
    Jeder darf aber laut dieses Gesetzes verhaftet und auf unbestimmte zeit festgehalten werden, OHNE dass ein Gericht angehört werden muss…
    Kommt uns das nicht irgendwie bekannt vor?
    Natürlich ist das nur um die Terroristen zu verhaften, die sonst den Reichsta… äh ich meine den Kongress in die luft jagen würden.
    Sorry für die Anspielung!
    Aber das ist etwas, das ich fast noch schlimmer finde, gerade wenn man bedenkt, wie viele rechtsradikale und religiöse „fanatiker“ es in den USA gibt, befürchte ich eher, dass die uns zuvor kommen werden mit dem neuen „Reich“…
    Also Gott schütze Amerika, das land der (un)BEGRENZTEN Möglichkeiten!
    Ich hoffe dass dies alles nur schwarzmalerei ist, aber was wenn nicht? was machen WIR dann?
    Ich hoffe nur, dass dank dem Internet es mehr als nur einzelne kleine „Scholl’s“ geben wird sondern dass es dann einen AUFSTAND geben wird…

    Wir sind aber auf einem guten Weg, denn die Internetgemeinschaft ist verknüpft und man hatte (zumindest am anfang) auch bei den Protesten gegen ACTA gesehen, wie wir zusammen hängen. Leider hatte auch dies schnell nachgelassen, aber die Hoffnung stirbt zu letzt.
    Hoffen (und handeln) wir, damit es nicht soweit kommt!
    Beste Grüße und: Remember Remember the 5th of November…

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