Die Tonsprache Claudio Monteverdis

Freitag, 17. Juni 2011

Gestern habe ich meine Abschlußklausur in Musikwissenschaft geschrieben – vier Stunden, mit der Hand! Ich habe seit 10 Jahren keine Klausuren mehr geschrieben. Wie kommen die auf die Idee, sowas zum Studienabschluß zu fordern? Na ja, mein Thema war die Tonsprache Claudio Monteverdis anhand seines Madrigals „Mentre vaga Angioletta“. Ich möchte in diesem Blogpost ungefähr wiedergeben, was ich dazu geschrieben habe. Da man aber in vier Stunden Handgeschriebenem gerade mal an der Oberfläche kratzen kann, ist der Text nicht sonderlich detailliert. (mehr …)

Seminararbeit: Musica son

Mittwoch, 03. Oktober 2007

Musica son. Betrachtung eines Madrigals des italienischen Trecento-Komponisten Francesco Landini und seines historischen Kontextes, Freie Universität Berlin, Mar. 2004
[Abschlußarbeit zum Proseminar “Probleme und Methoden der Musikwissenschaft. Musik um 1400” der Musikwissenschaften, geleitet von Herrn Dr. Oliver Vogel]

1. Propositio

« Musik um 1400 » ist der Titel des Proseminars Probleme und Methoden der Musikwissenschaft in diesem Semester. Dass das Thema in diesem Zusammenhang besprochen wird, lässt zu mindest vermuten, dass die Zeit um 1400 und der Diskurs darüber für den Musikwissenschaftler eine gewisse Herausforderung darstellen.

Thematisiert wurden vor allem Aspekte französischer Musik der Ars Nova und Ars Subtilior, deren Formen, deren Komponisten, deren Quellen und deren Kontroversen. Für mich stellte es in diesem Zusammenhang eine besondere Herausforderung dar, durch ein Referat in die italienische Musikkultur der Ars Nova einzuführen. Ich versuchte dieser Aufgabe durch die Analyse des Madrigals « Musica son – Già furon – Ciascun vuoli » gerecht zu werden.

In meiner Hausarbeit soll es nun darum gehen, diese Analyse und einige weitere, im Referat aufgeworfene Themen zu komplettieren und zu verschriftlichen. Dabei soll, neben der ausführlichen Formanalyse, auch das Verhältnis von Landinis Musik zum italienischen bzw. französischen Stil betrachtet werden.

In einer kurzen Einführung, « Landini und das Trecento », werde ich die kulturellen Grundlagen des italienischen Stils und einige Begebenheiten aus Francescos Biographie besprechen. Dem folgt die Analyse des Madrigals, bei der ich, vom Allgemeinen ausgehend, zu den speziellen Betrachtungen kommen werde. Dabei soll zunächst der Text, dann die Musik betrachtet werden. Eine selbst erarbeitete Statistik wird die Darstellung harmonischer Begebenheiten unterstützen.

Zum Ende meiner Ausführungen will ich mit wenigen Worten das Thema « Notation in Ms. Mediceo-Palatino 87 » anreißen. Jedoch soll dieses nicht ausgeweitet werden, sondern lediglich die in der Analyse besprochenen Argumente unterstützen.

Die Hauptquellen, auf die sich meine Argumente stützen, werden innerhalb der Tractatio genannt werden. Eine ausführliche Quellenangabe findet sich zusammen mit diversen Noten, dem Gedichttext mit Übersetzung und einer Tabelle im Anhang meiner Arbeit.

2. Tractatio
2.1 Landini und das Trecento

Die Zeit des Trecento, außerhalb Deutschlands als italienische Ars Nova bezeichnet, war eine Zeit politischer Wirren. Zahlreiche Kämpfe zwischen kaiserlichen und freien Städten Italiens und zwischen Kaiserreich und Frankenreich auf italienischem Boden brachten wechselnde Bündnisse, Siege und Niederlagen gleichermaßen. Der Verfall der Stauferherrschaft nach dem Tod Friedrichs II. (1250) und die Regentschaft der französischen Päpste in Avignon (1305 – 1387) griffen das Vertrauen in die „alte Ordnung“ stark an.

Das Trecento war die Zeit der großen Hungersnöte und schrecklichen Pestepidemien (1348/49 & 1361/62), die das Volk zu Tausenden dahinrafften. Und dennoch entwickelte sich gerade in dieser Zeit eine eigenständige und reiche italienische Kultur.

Diese Entwicklung stand sicherlich in engem Zusammenhang mit dem italienischen Städtetum, dem florierenden Handel, der Ausbildung politischer und kultureller Zentren im Norden und der Mitte Italiens und natürlich der Existenz wohlhabender Förderer italienischer Kunst. Die Namen der Familien Visconti in Mailand, Scaliger in Padua und später der Medici in Florenz sind bis heute bekannt.

Auch in Italien war die Kunst ein Privileg der gebildeten und wohlhabenden Gesellschaft, hauptsächlich des gehobenen Bürgertums der freien Handelsstädte und klerischer Kreise.

Voraussetzung für die kulturelle Blüte war die Entwicklung einer eigenständigen, italienischen Literatursprache durch die sizilianisch-toskanische Dichterschule unter Dante Alighieri, der auch die Dichter Francesco Petrarca und Giovanni Boccaccio angehörten. Sie bildeten in ihrer Lyrik den sog. dolce stile nuovo aus, der bald starken Einfluss auf die zeitgenössischen Komponisten ausübte. Es kam so zur Kultivierung neuer Formen der Lied- und Dichtkunst, wie der Canzona, dem Madrigal, der Ballata und der Caccia.

In der Musik, herrschten ein- und zweistimmige Kompositionen ohne liturgischen Tenor vor. Isorhythmie und Diminutionstechniken, wie sie die französische Motette pflegte, fanden wenig Anwendung. Kultiviert wurden eher kanonische Techniken, besonders in der Caccia. Bezeichnend für den italienischen Stil ist heute vor allem die enge Verbindung zwischen Lyrik und Musik, die sog. poesia per musica. Die Struktur der Liedsätze ist unmittelbar vom Vers geprägt.

Das Trecento entwickelte sogar eine eigenständige Notation, ein Divisionssystem nach Petrus de Cruce. Doch alles in allem blieb der italienische Stil in der Folgezeit nicht frei von französischen Einflüssen.

Francesco Landini oder Franciscus Landino, von mir im Folgenden als Francesco bezeichnet, ist ein Komponist der „zweiten Generation“. Aus musikalischen Quellen ist er uns als Magister Franciscus Cecus Horghanista de Florentia, Francesco degli Orghani oder Coechus de Florentia bekannt. All diese Bezeichnungen beziehen sich entweder auf seine Heimat Florenz, seine Erblindung oder seinen Beruf als Organist. Die Verbindung mit der Familie Landini kann erst durch die Verwendung des Landini-Wappens auf Francescos Grabstein und durch die Schriften seines Großneffen Christoforo Landino, in denen er Erwähnung findet, hergestellt werden.

Geboren um 1325 oder 1335 in Fiesole oder Florenz (weder Geburtsjahr, noch -ort sind urkundlich belegt) wendet sich Francesco früh der Musik zu. Aus Villanis Chronik « Liber de originis civitatis Florentiae et eiusdem famosis civibus » wissen wir, dass er als Kind durch eine Pockenerkrankung erblindet ist. Diese Erblindung hält ihn jedoch schon zu Lebzeiten nicht davon ab, als Meister der Improvisation, besonders auf der Orgel gerühmt zu werden.

1361 wird Francesco Organist im Kloster Santa Trinità in Florenz, 1365 Capellanuns an der Kirche San Lorenzo ebendort. Aus dieser Zeit sind uns zahlreiche Quellenbelege überliefert, die uns Auskunft über Francescos Leben und Wirken in Florenz geben.

Auch in der Literatur seiner Zeit taucht Francesco auf. In Giovanni da Pratos Ramanza « Il paradiso degli Alberti » wird von Zusammenkünften im Landhaus der Florentiner Bankiersfamilie Alberti berichtet, bei denen er sich geistreich an gelehrten und politischen Diskussionen beteiligt.

Am 2. September 1397 stirbt Francesco in Florenz. Er wird am 4. September in der Kirche San Lorenzo beigesetzt.

Uns sind 154 Werke des Komponisten aus verschiedenen Quellen überliefert: Ballaten, Caccias, Madrigale, Motetten und ein französisches Virelai. Die erhaltenen Werke machen etwa ein Viertel des gesamten überlieferten weltlichen Trecento-Repertoires aus. Die breite und zahlreiche Überlieferung seiner Werke, besonders in norditalienischen Quellen, spricht deutlich für deren damalige Beliebtheit.

2.2 « Musica son – Già furon – Ciascun vuoli »
2.2.1 Der Text

Francescos dreistimmige Komposition « Musica son – Già furon – Ciascun vuoli » ist in den einschlägigen Quellen, diversen Lexika, sowie musikwissenschaftlichen Texten als Madrigal anerkannt.

Das Madrigal, marigale, wie es in Venedig oder madriale, wie es in der Toskana genannt wird, ist in seinen Ursprüngen eine von Petrarca, weniger von Dante gepflegte und kultivierte poetische Gattung. Etymologisch stammt das Wort vermutlich von [lat.] „matricalis“, was soviel bedeutet wie „von der Mutter her, in der Muttersprache“. Es handelt sich beim Madrigal um ein muttersprachliches, also italienisches Gedicht.

Formell besteht es aus einer beliebigen Anzahl an Terzetti (Strophen à drei Verse). Jeder Vers eines Terzetts besteht aus sieben oder elf Silben und weist den gleichen Endreim auf (Schema a-a-a). Jedem Terzett kann ein ein- oder zweiversiges Ritornell folgen, das einen anderen Endreim bringt (Schema b-[b]).

Petrarca behandelt im Madrigal noch vorrangig pastorale Themen. Die arkadischen Inhalte weichen jedoch mit der Zeit zunehmend autobiographischen, symbolischen, moralischen oder politischen Topoi.

Der Text von « Musica son – Già furon – Ciascun vuoli » (Anhang B) stammt vermutlich von Francesco selbst. Es gibt jedoch auch Überlegungen, die Zweifel an seiner Autorschaft aufkommen lassen und aufgrund mangelnder Beweise kann ihre Authentizität nicht eindeutig nachgewiesen werden.

Im Aufbau folgt der Text den Konventionen der Madrigalform. « Musica son – Già furon – Ciascun vuoli » besteht aus drei Strophen à einem Terzett, jeweils mit zweiversigem Ritornell. Zählt man die Silben, wobei man die zahlreichen Elisionen beachten muss, wird man feststellen, dass jeder Vers mit elf Silben bestückt ist. Einzig die Endreime des ersten und letzten Terzetts weichen vom traditionellen Reimschema ab.

In musikwissenschaftlichen Textbesprechungen wird immer wieder auf den „autobiographischen“ Inhalt des Madrigals hingewiesen. Der Terminus „autobiographisch“ ist jedoch sehr ungenau. Der Text kommuniziert einen kritisch-moralischen Inhalt auf metatextueller Ebene. Frau Musika beklagt sich über die Verderbtheit des Publikums, der „cavalieri, baroni e gran signori“ und über das mangelnde Bestreben der Künstler nach Perfektion, „tendo ogun le sue autenticitate“. Es finden sich sogar performative Sprachelemente, wie „inarrar musical note“. Dies hat wohl zu der weit verbreiteten Annahme geführt, es handle sich um einen autobiographischen Text.

Mit seinem kritischen Inhalt steht der Text in engem kulturellen Zusammenhang mit Themen, wie sie in den Rahmenhandlungen des « Decameron » oder in « Il paradiso degli Alberti » besprochen werden und kann deshalb als besonders repräsentativ gelten.

2.2.2 Die Musik

Im frühen Trecento entwickelt sich das Madrigal, später von der Ballata abgelöst, zur häufigsten Liedgattung. Seine musikalische Struktur ist ganz der italienischen Tradition der poesia per musica verpflichtet, d.h. vom Text geprägt. Die Terzetti bilden den musikalischen Teil A, die Ritornelle den musikalischen Teil B, der in deutlicher Abgrenzung zu A meist in einer anderen Mensur steht. Die Verse werden derart vertont, dass es auf jeder ersten und vorletzten Silbe zu ausgedehnten Melismen kommt. Interpunktiert wird in der Regel am Versende auf reinen Konsonanzen.

Es gibt sowohl zweistimmige, als auch dreistimmige Kompositionen. Der Tenor erklingt meist eine Quarte oder Quinte unter dem Superior. Er hat begleitenden Charakter und ist im Unterschied zum französischen Stil textiert. Der Superior weist kürzere Notenwerte, einen lebhafteren und primären Charakter auf. Die Ambitus beider Stimmen haben vornehmlich den Umfang einer Oktave mit Ober- und Untersekunde. In einer zweistimmigen Komposition verlaufen diese beiden Stimmen kreuzungsfrei.

Eine dreistimmige Komposition entsteht aus der Ergänzung der Zweistimmigkeit durch eine dritte Stimme, den Contratenor. Dieser kann verschiedene Funktionen übernehmen. Er kann im Charakter sowohl einem zweiten Superior entsprechen, als auch eine ruhigere Mittelstimme sein oder aber als Fundament fungieren, ähnlich wie ein zweiter Tenor. Danach, welche Funktion der Contratenor übernimmt, unterscheiden sich die Arten des dreistimmigen Madrigals.

Vom italienischen Stil wird oft berichtet, er mute wie eine Improvisation an. Die freie Wahl von Kadenztönen, der ungebundene Umgang mit der Vertonung von Elisionen und relativ häufig auftretende offene Unisono-, Quint- oder Oktavparallelen begründen wohl dieses Empfinden.

Der repräsentative Text von « Musica son – Già furon – Ciascun vuoli » und sein kritischer Inhalt evozieren bereits große Erwartungen an deren musikalische Umsetzung. Die hohe künstlerische und handwerkliche Qualität von Francescos Komposition kann die Textabsicht souverän transportieren. Dass sie der Wertschätzung anderer Künstler gerecht wird, bezeugt die breite Überlieferung in mindestens fünf verschiedenen Quellen.

Schon die Dreistimmigkeit des Tripelmadrigals zeugt von hohem musikalischem Anspruch. Der Text der drei Strophen erklingt simultan in allen drei Stimmen, so dass es während des Vortrags zu einer besonderen Mehrtextigkeit kommt. Das ist ungewöhnlich.

In der Tradition der Madrigalform splittet sich das Musikstück in erwarteter Weise auf: Die Terzetti bilden den musikalischen Teil A, die Ritornelle den musikalischen Teil B. Während Teil A eine imperfekte Mensur aufweist, wird in Teil B durch die Punktierung der ersten Longa (Anhang C3) eine Dreizeitigkeit erzeugt. In Ms. Mediceo-Palatino 87 hat der Kopist darüber hinaus ein Mensurzeichen gesetzt, das Dreizeitigkeit anzeigt.

Initialklang und Schlusskadenz des A-Teils werden von vollkommenen Konsonanzen gebildet. Am Anfang des B-Teils steht ein vollständiger Dreiklang mit großer Terz. Der Dreiklang ist aus England bekannt. Dass er hier einen Initialklang bildet, kann wohl als besonders gelten. In der finalen Kadenz enden die drei Stimmen in einem Unisono.

Der Tenor bildet als tiefste Stimme das Fundament der Komposition. Er verläuft ruhiger als der Superior und hat begleitenden Charakter. Der Superior ist bewegter, hat kürzere Notenwerte und zeugt von größerer rhythmischer Vielfalt. Der Contratenor wird als zweiter Superior gebraucht.

Contratenor und Superior sind sich also rhythmisch und melodisch sehr ähnlich. Häufig umspielen und kreuzen sie einander, ahmen einander nach. Bei der Nachahmung handelt es sich jedoch nicht um eine Kanontechnik, wie man sie in der Caccia antrifft, sondern eher um eine freie und bruchstückhafte Imitation kürzerer Floskeln. Auffällig treten diese Imitationen in den Takten 20-22, sowie 29-30 (Anhang C1) zwischen Superior und Contratenor in Erscheinung. Im B-Teil findet sich eine Imitation zwischen Superior und Tenor in den Takten 76-77. In Anhang C1 habe ich diese Stellen braun gekennzeichnet. Marginalere Imitationen unter den Stimmen lassen sich auf Floskelbildung zurückführen, auf die ich später noch ausführlich kommen werde.

Der Tenor mit genauem Ambitus einer Oktave berührt den Contratenor relativ häufig. In den Takten 43 und 76 kommt es zur Kreuzung zwischen beiden Stimmen. Den eine Quinte höher gelegenen Superior berührt der Tenor weniger oft. Es kommt nicht zur Stimmkreuzung. Einzige und sehr interessante Ausnahme bildet hier Takt 56 (Anhang C2), in dem der Tenor kurz vor Ende des A-Teils mit einer großen Geste zur höchsten Stimme aufsteigt.

Zwar haben Superior und Contratenor den gleichen Umfang einer Oktave mit Ober- und Untersekunde, die Ambitus sind im selben Stimmraum gelegen und die beiden Stimmen sind sich auch sonst sehr ähnlich. Da aber der Tenor öfter mit dem Contratenor als mit dem Superior in Berührung kommt, kann man daraus erkennen, dass der Contratenor durchschnittlich tiefer gelegen ist und sich meist zwischen Tenor und Superior ansiedelt.

Die im italienischen Stil übliche Textvertonung mit Melismen auf der ersten und vorletzten Silbe jedes Verses befolgt Francesco zwar, jedoch nicht äußerst streng. Auf vorletzter Silbe finden sich besagte Melismen, in Anhang C1 grün markiert, immer. Die Melismen auf der ersten Silbe, in Anhang C1 orange markiert, werden innerhalb des Stücks, besonders im B-Teil, z.T. übergangen.

Eine interessante Folge der Mehrtextigkeit des Stücks ist die lineare Klauselbildung. Die drei Stimmen, die den Text simultan vortragen, erreichen die Versenden, die ich in C1 blau markiert habe, zu unterschiedlicher Zeit. So kommt es, dass jede Stimme einzeln und für sich interpunktiert, wobei ich in dem Fall von den simultanen Kadenzen der Initial- und Finalklänge absehe.

Die Klauseln auf den Tönen d bzw. a, auf e in Takt 18 und cis in T. 75 zeugen von einem harmonischen Konzept. Von freier Wahl der Kadenztöne kann hier freilich nicht die Rede sein. Die Ambitus, sowie die Stimmräume der einzelnen Stimmen lassen eine klare Organisation der Kadenzbildung innerhalb des dorischen Modus erkennen.

Die Versenden und –anfänge sind jeweils durch Longapausen voneinander getrennt. Einzige Ausnahme bilden die Takte 37-38 im Tenor, wo Versende und –anfang durch ein untextiertes Zwischenspiel aneinander gebunden werden. Ein weiteres Zwischenspiel dieser Art findet sich in den Takten 21-24 im Tenor. Hier folgen jedoch vor Beginn des nächsten Verses die zwei Longapausen. Dass es untextierte Zwischenspiele gibt, stützt die Vermutung, dass die Stimmen während des Vortrags instrumental begleitet wurden.

Die in der französischen Motette so häufig angewandte Isorhythmie findet sich in diesem italienischen Lied nicht. Auch längere Synkopenketten, wie sie in Ars Subtilior-Kompositionen gepflegt wurden, sind hier nicht vorhanden. Der Rhythmus dieser Komposition ist eher von einer markanten rhythmischen Formel, ss saas v, geprägt (wobei s eine Sechzehntelnote, a eine Achtelnote und v eine Viertelnote repräsentiert). Diese Formel nimmt, da sie in linearer Abfolge oder mit mindestens einem Wendepunkt in ähnlicher Art immer wieder auftaucht, den Status einer Floskel ein. Sie findet sich in den Takten 6, 39, 69, 77 und 80 im Superior, in den Takten 2, 10, 11, 35, 46 und 49 im Contratenor und in Takt 76 in bedeutender imitatorischer Anwendung im Tenor.

Insgesamt werden die in der Ars Nova üblichen Notenwerte, Longa, Brevis, Semibrevis und Minima verwendet. Triolen oder andere kleinste Divisiones des „Brevis-Taktes“, wie sie in den Kompositionen der „ersten Generation“ üblich sind, bringt Francesco nicht. Das vorhandene rhythmische Material wird jedoch in verschiedenen Kombinationen ausgeschöpft, wobei meist sanfte Übergänge zwischen den Polwerten Longa und Minima gemacht werden.

In Teil A kommt es zwischendurch immer wieder zu beinahe homophonen Ruhepunkten, besonders auffällig zu beobachten in den Takten 3 und 23. Solche Ruhepunkte fehlen in Teil B völlig. Insgesamt lässt sich sagen, dass Teil B sowohl rhythmisch, als auch melodisch und in logischer Folge dessen harmonisch bewegter ist.

Das harmonische Gefüge des Stücks kann anhand der Transkription in moderner Notenschrift (Anhang C1) und der nach dieser Transkription edierten Midi-Notation (Anhang C2) sehr schnell in statistischen Aussagen über reine Klangsituationen zusammengefasst werden. So finden sich insgesamt 70 direkt angesungene vollkommene Konsonanzen in dem Stück, wobei es nur 3 mal zum Unisono kommt (T. 33, T. 70, T. 94) und 38 direkt angesungene unvollkommene Konsonanzen.

Die direkt angesungenen dissonanten Klänge halten sich in ihrer Zahl zurück. Diese, in Anhang C1 orange gekennzeichnet, treten hauptsächlich auf leicht gewichteten oder kurzen Notenwerten auf. Die einzig signifikante Dissonanz ist das direkte mi contra fa in Takt 69. Man mag aber annehmen, dass die damaligen Sänger, auch ohne vorgezeichnetes Akzidentium, solchen Zusammenklängen ausgewichen sind.

Ein erstaunliches Phänomen ist, dass es innerhalb des Stücks zu 41 direkt angesungenen vollständigen Dreiklängen kommt. Dies zeugt davon, dass der Harmonie hier besondere Aufmerksamkeit zuteil wird, ähnlich wie es innerhalb der Kontrapunktik in der frühen Neuzeit praktiziert wird. Ein weiterer Umstand, der für den hohen Anspruch der Komposition spricht.

Die Aussagekraft dieser Statistik (Anhang D) ist jedoch begrenzt. Zwar lassen sich ungefähre Verhältnisse erkennen, dennoch geben die Zahlen lediglich Hinweise auf die Quantität, nicht aber die Qualität einer harmonischen Erscheinung. So muss z.B. der initiale Dreiklang zu Beginn des B-Teils sehr viel schwerer gewichtet werden als die Dreiklänge die sich in Takt 67 ergeben.

2.3 Notation in Ms. Mediceo-Palatino 87

Die Werke Francescos sind in mehreren Trecento-Quellen überliefert. Das Madrigal « Musica son – Già furon – Ciascun vuoli » ist in den meisten als von Francesco stammend vermerkt. Die Authentizität seiner Autorschaft als Komponist kann dadurch mit hoher Wahrscheinlichkeit angenommen werden.

Über die Entstehungszeit des Madrigals scheint Unklarheit zu herrschen. So gibt das Neue Handbuch der Musikwissenschaft an, es handle sich um ein eher spätes Werk, das um 1375 entstanden sei. Die Enzyklopädie Die Musik in Geschichte und Gegenwart meint jedoch, die Werke mit zweitem Superior seien vor 1375 entstanden. Da uns die Entstehungsumstände des Stücks nicht bekannt sind, ist es schwer eine vertrauensvolle zeitliche Einordnung vorzunehmen.

In der Prachthandschrift Ms. Mediceo-Palatino 87, dem „Squarcialupi-Codex“, leitet « Musica son – Già furon – Ciascun vuoli » das Kapitel des Magister Franciscus Cecus Horghanista de Florentia ein. Da die Auswahl der aufgeführten Stücke bewusst getroffen und die Anordnung durchdacht und geplant ist, mag diese Stellung bezeichnend für die Bedeutung des Madrigals innerhalb des Œuvres des Komponisten sein.

Der Codex, benannt nach seinem ersten Besitzer Antonio Squarcialupi, später im Besitz der Medici, stellt die umfangreichste und prachtvollste Liedersammlung des Trecento dar. Er reiht Komponisten wie Giovanni da Cascia und Jacopo da Bologna, Gherardello da Firenze, Vincenzo da Rimini oder Antonius Zacharias de Teramo (Magister Zacara) auf. Insgesamt finden sich darin 354 Werke von 12 verschiedenen Komponisten, jeweils in „Kapiteln“ chronologisch angeordnet. Mehr als ein Drittel der Werke stammt von Francesco.

Die Pracht der 216 Pergamentfolianten liegt vor allem in ihrer reichen Ausstattung begründet. Jedes Kapitel wird von einer fein illuminierten und aufwändig mit Blattgold verzierten Miniatur, einem Portrait des Komponisten, eingeleitet. Aus diesen sog. historisierten Initialen können noch heute viele interessante Erkenntnisse gewonnen werden.

Der Anhang C3 stellt eine Abschrift der Gallo-Faksimile-Ausgabe des Squarcialupi-Codex dar. Sehr gut kann man erkennen, dass das Stück zwar, wie es in Italien üblich war, auf sechs Notenlinien notiert ist, dass es sich aber um französische Notation handelt. In diesem Fall ist das keine Frage des Geschmacks, sondern eine Frage der Darstellungsmöglichkeiten.

Im italienischen Divisionssystem lassen sich Synkopen, die über den „Brevis-Takt“ hinausgehen, nicht oder nur sehr schwer darstellen. In « Musica son – Già furon – Ciascun vuoli » würden bei dem Versuch bereits in Takt 2 Probleme auftreten. Die rhythmischen Elemente des Superiors,  und des Contratenors, , sind nicht sinnvoll durch italienische Notation auszudrücken. Da dies nicht die einzige Stelle ist, an der Komplikationen auftreten würden, muss das gesamte Stück in französischer Notation festgehalten werden.

Dies ist ein deutlicher Beweis dafür, dass Francesco nicht wie seine Vorgänger Jacopo da Bologna oder Giovanni da Cascia rhythmisiert. Für deren Stücke bot sich die italienische Notation noch an. Hier weicht Francesco jedoch in der Rhythmisierung bereits deutlich vom italienischen Stil, wie ihn die Komponisten der „ersten Generation“ prägten, ab. Eine Notation im Divisionssystem kommt für Francescos Musik bereits nicht mehr in Frage.

3. Conclusio

Francesco Landini hinterlässt uns mit dem Tripelmadrigal « Musica son – Già furon – Ciascun vuoli » eine Trecento-Komposition, die einen sehr hohen musikalischen Anspruch verfolgt und den Wandel der Gattung Madrigal zu einer exklusiven und repräsentativen Form bezeugt. Vieles daran bedient noch die „alten“ Traditionen der Komponistengeneration, die bereits um 1340-50 in Norditalien gewirkt und den „typisch“ italienischen Stil begründet hat. Anderes daran ist neuartig und zeugt von einem individuellen Umgang mit französischen Einflüssen.

Da Francescos Autorschaft für den Text als nicht gesichert gelten kann, lassen sich hier wenig direkte Aussagen über sein Verhältnis zum italienischen Stil machen. Allein die Tatsache, dass er die im frühen Trecento äußerst beliebte Form des Madrigals und einen solch repräsentativen italienischen Text zur Vertonung gewählt hat, bringt die enge Verbundenheit mit italienischen Traditionen deutlich zum Ausdruck.

Die Struktur des Stücks und die Anlage der Stimmen folgt durchaus den bekannten Regeln der poesia per musica. Darüber hinaus bemüht sich Francesco um die Anwendung verschiedenster klanglicher Raffinessen, die neuartig wirken und den künstlerischen Anforderungen des Textes Genüge leisten. Dazu zählen die Mehrtextigkeit und die kühne Stimmkreuzung in Takt 56 genauso, wie die Anwendung der zahlreichen Dreiklänge oder der rhythmischen Floskel.

Von einem improvisatorischen italienischen Stil kann hier nicht die Rede sein. Im Gegenteil, das Stück mutet unerwartet organisiert und durchdacht an. Kompositorische Ungeschicktheiten, wie unangenehme dissonante Zusammenklänge oder Parallelbewegung in den Stimmen, sind dieser Komposition so gut wie fremd.

Die Abkehr vom italienischen Divisionssystem und aller damit verbundenen kompositorischen Eigentümlichkeiten und die Hinwendung zu rhythmischen Gestaltungsmitteln, die nur in französischer Notation sinnvoll ausgedrückt werden können, lassen hier einen direkten französischen Einfluss erkennen.

Das Werk « Musica son – Già furon – Ciascun vuoli » steht in der Linie italienischer Tradition und darüber hinaus für die große Begabung und die stilistische Individualität seines Komponisten.

Die Anhänge

Die Anhänge umfassen vier Teile. Ein PDF mit den kompletten Anhängen kann unter folgendem Link heruntergeladen werden: Musica son – Appendices

  • A: Literatur- und Quellenverzeichnis
  • B: Madrigaltext und Übersetzung
  • C: Noten
    • C1: moderne Edition/Transkription
    • C2: Edition in „Midi“-Notation
    • C3: diplomatische Abschrift
  • D: Statistik

März 2004

Dichter Worte

Donnerstag, 10. Mai 2007

[audio:lev05.mp3]
Dichter Worte

Verbringst du Zeit in dunklen Winternächten
mit Worten einen Wettkampf auszufechten,
verfällst du, hilflos dichtend, ihren Mächten.
      sie fahrn in deine Glieder,   immer wieder.

Man glaubte, dadurch könnt man Weisheit pachten,
auf Elfbeintürmen seinen Geist zu schlachten.
Poeten gab es, die den Tod sich brachten.
      Es bringt ein Wort dich nieder,   immer wieder.

Entführn dich schmeichelnd diese Ungerechten,
versuch nicht, ihnen kühn davon zu hechten!
Wart ab, wohin sie deine Feder brächten
      und Worte werden Lieder,   immer wieder.

V | Jan. 2004

Zur Entstehung

„Dichter Worte“ ist eigentlich nur eine Formübung, dass es durch seine Nummerierung dennoch Werkstatus bekommen hat, liegt nur daran, dass ich damals noch nicht wirklich reflektiert an das Thema Werkstatus herangegangen bin. Inzwischen bin ich viel selbstkritischer geworden. Sogar „An die Mate“ habe ich wieder den Werkstatus aberkannt, weil es ein Gelegenheitsgedicht ist, das nur Insider verstehen können.

Das ist mit „Dichter Worte“ doch noch ein bisschen anders. Der Inhalt ist seicht bis kitschig, habe ich schon lobende Kritik dafür bekommen. Eigentlich ging es mir darum, mich an einem Madrigal mit einversigem Ritornell zu üben. Nachdem ich mit „Ein altes Lied mein erstes Madrigal zustande gebracht hatte. Von beiden Texten geht nicht die typische Wirkung des Madrigals aus, obwohl beide durchaus als formell gelungen gelten. Im Gegensatz zu „Ein altes Lied“ bleibt „Dichter Worte“ aber regelrecht blaß.

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Ein altes Lied

Montag, 07. Mai 2007

[audio:lev04.mp3]
Ein altes Lied

Ihr Wünscheträumer, Genien gleich zu scheinen,
habt euch in eurem Turm von Elfgebeinen
gemütlich eingerichtet, will man meinen.
      Mit feinen Schleiern jeden Raum verhangen,
      aus Vorsicht müßt um jeden Schritt ihr bangen.

Ihr bellt an prunkbestückten Hundeleinen,
vereint in Popularitätsvereinen,
und könnt euch herzzerreißend selbst beweinen.
      In Hysterie und leerem Wahn gefangen,
      habt ihr im Leben selbst euch übergangen.

Daß in euch keine Götterfunken keimen,
vielleicht macht’s letztlich Sinn in Dichterheimen.
So kann ich hübsche Madrigale reimen,
      gemeine Lieder singen, unbefangen,
      wie andre Narren, die schon vor mir sangen.

IV | Jan. 2004

Zur Entstehung

Ich hatte mich aufgrund einer Seminararbeit mit Francesco Landini, einem italienischen Trecento-Komponisten, und seinem Madrigal „Musica son“ (Ich bin Frau Musica) beschäftigt. Ein Madrigal ist zu diesem Zeitpunkt nicht das, was man heute aus dem Barockzeitalter kennt, sondern eine eher literarisch emanzipierte Form im Endecasyllabus mit Ritornell – eine spannende und interessante Form, wie ich dachte, die, trotzdem sie Antiquiertes antizipiert, doch irgendwie das Repertoire der zeitgenössischen Formenlyrik angenehm erweitern könnte. Aber welchen Inhalt füllt man in ein solches Gefäß?

Francesco zog in seinem Madrigal über die Unfähigkeit der Laienmusiker her und stellte sich und die Form des Madrigals damit auf einen elitären Sockel. Auch wenn wir heute nicht mehr nachvollziehen können, worüber sich Francesco eigentlich beschwerte (die Liedform, über die er sich beklagt, ist nicht überliefert), fand ich die arrogante Überheblichkeit des Künstlers irgendwie nachvollziehbar, hatte ich mich über Laiendichter doch selbst schon genug aufgeregt. Es ging mir aber letztlich nicht darum, ein konkretes Schmähgedicht zu verfassen, sondern darum, eine Emotion festzuhalten, das Gefühl von Überlegenheit, welches in formvollendetem Schimpf sich manifestiert.

Ich wollte auch, wie Francesco, einen „poetologischen Text“ verfassen, also ein Gedicht, das quasi performativ sich selbst und sein Dichten reflektiert. So wie Frau Musica über den Verfall der Musik singt, freut sich mein lyrisches Ich, dass es aufgrund der Unfähigkeit anderer dazu befähigt ist, sich in einem Gedicht darüber aufzuregen. Das fand ich irgendwie witzig, weil es dem gesamten Text einen selbstironischen Touch verleiht. Denn so ganz ernst kann man solch Gejammer wohl selbst nicht nehmen.
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