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Précis: Aufführung – Autor – Werk

Montag, 03. Mai 2010

Précis sind kurze Zusammenfassungen der wichtigsten Thesen und Argumente wissenschaftlicher Fachaufsätze. Diesmal habe ich mir Jan-Dirk Müllers „Aufführung – Autor – Werk“ von 1999 durchgelesen, ein Text, der das Spannungsverhältnis mittelalterlicher Texte zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit thematisiert und für eine Neubewertung des Autorbegriffs eintritt, der unserer modernen Auffassung des Urhebers ziemlich entgegen steht. Dies ist vor dem Hintergrund der aktuellen Copyright-Debatte nicht unspannend.

Aufführung – Autor – Werk ~ Jan-Dirk Müller

Die literarische Kultur des europäischen Mittelalters sei primär von der Mündlichkeit geprägt gewesen, führt Müller ein, d.h. Geschichten wurden erzählt, Gedichte vorgesungen und ebenso hätten sich die Texte auch von Mund zu Mund verbreitet. Ab den 12./13. Jahrhundert hätte sich die Konzeption, also die Ideenfindung von Texten, zum Medium der Schrift hin verschoben, was natürlich zu einer Einflußnahme auf die noch immer mündliche Vortragspraxis geführt hätte und umgekehrt. Diese gegenseitige Einflußnahme wird als „das eigenwillige Spannungsverhältnis des mittelalterlichen Textes zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit“ paraphrasiert. Die Erkenntnis davon habe zu einem Disput unter der versammelten Philologenschaft geführt, der wohl um 1999 herum in unsachlichen Argumenten zu stagnieren drohte. Müller jedenfalls nennt diesen Grund dafür, dass er seinen Aufsatz „Aufführung – Autor – Werk“ verfaßt hat.

Die Philologen auf der einen Seite der Debatte seien Anhänger der sogenannten Lachmannschen Methode (nach dem deutschen Mediävisten und Altphilologen Karl Lachmann). Unter den vielen Varianten, in denen mittelalterliche Texte oftmals der Nachwelt überliefert sind, würden sie den Urtext zu rekonstruieren versuchen, wobei sie von der modernen Annahme ausgehen, es gäbe die einen, ursprüngliche Textfassung und den einen ursprünglichen Autor, der die Autorität über diesen Urtext innehätte.

Da aber auch die schriftlich konzipierten Texte mündlich aufgeführt und entsprechend der Aufführungssituation, z.T. mit Publikumsinteraktion angepaßt worden wären, könne es, so behaupten Müller und die Philologen auf der anderen Seite (u.a. Bumke, Zumthor), keinen Urtext geben und dementsprechend auch keine am Autor ausgerichteten Rekonstruktionsbestrebungen.

Der Lachmannschen Methode stehe die Auffassung der „movence“ (Zumthor) des mittelalterlichen Textes gegenüber, bei der alle überlieferten Varianten gleichberechtigt nebeneinander stünden. Eine Art unkonkreter mündlicher Hypertext stehe über all diesen Varianten. Diese Auffassung sei zum neuen Leitbild der Editionspraxis geworden, was den Poststrukturalisten sehr entgegen gekommen sei. Denn diese lehnten den Autor- und den Werkbegriff als solche ab.

1. Aufführung

Dafür, dass mittelalterliche Texte aufgeführt worden seien, gibt es zwar nur indirekte Belege, bspw. Performanzsignale in den Texten, die den Rezeptionshintergrund einer geselligen Kommunikations aufzeigen. Dies müsse als Grundlage für das Verständnis mittelalterlicher Texte hypothetisch angenommen werden. Dabei sei jede konkrete Aufführung eine reglementierte Form mündlicher Kommunikation. Die Lizenz zur Veränderung von Texten orientiere sich an Texttypus und Gattung. Schriftlich Fixiertes sei dabei verbindlicher, also weniger anfällig für Variation in einer konkreten Aufführungssituation.

Man dürfe sich die schriftliche Überlieferung aber auch nicht als erstarrtes Zeugnis einer konkreten Aufführungssituation denken. Eher sei sie Transformation in ein anderes Medium, in dem sich Spuren von Kommunikationssituationen zeigen können. Dabei könne es sich sowohl um reale, als auch um fingierte Dialoge handeln. Mit zunehmender Verschriftlichung fallen mündliche Elemente, wie bspw. Performanzsignale, zunehmend weg. Dass der Spielraum von Varianz nicht beliebig ist, tangiere die Interpretation des Redeaktes insgesamt, helfe jedoch bei Detailfragen nicht weiter. Da der Redeakt einer konkreten Aufführung nicht gefaßt werden könne, muß die Mündlichkeit mittelalterlicher Texte als Prozess begriffen werden.

2. Autorschaft

Der mittelalterliche Text kenne etwa ab Ende des 12. Jahrhunderts Autorennamen. Dies funktioniere über Zuweisungen in Handschriften, die jedoch meist unsicher sind, da es zu Fehlzuweisungen komme. Dafür macht Müller das Verhältnis vom Vortragenden zum Autor verantwortlich; beide können bspw. durch den Gebrauch der ersten Person (ich, mein, …) miteinander verschmelzen. Die Anerkennung habe im Mittelalter dem Vortragenden gegolten. „Der Verfasser eines Textes erwirbt an diesem Text kein Eigentum; er stellt etwas her, das anderen zum Gebrauch sich anbietet“, schreibt Müller. Dem Vortragenden obliege es, den Text vollendet und brauchbar dem Publikum darzubringen, weshalb der Wert eines Textes nicht am Urheber festgemacht worden sei.

Originale oder ursprüngliche Texte seien weder herzustellen, noch vor anderen Quellen ausgezeichnet. Die urpsrungsmythische Konnotation von Autorschaft entfällt und entspräche nicht der mittelalterlichen Ästhetik. Der mittelalterliche Autorbegriff sei undeterminiert; nach dem Verfassen ist der Text dem Zugriff des Autors entzogen. Erst seit dem 13. Jahrhundert (Meistersinger) gibt es Versuche, den Zugriff des Autors auszudehnen. Aber erst mit der Erfindung des Buchdrucks im 16. Jahrhundert geht die Einführung von Autorenrechten einher.

3. Text

Es gäbe eine Einsicht in die strukturelle Offenheit mittelalterlicher Texte, die nicht mit der Variabilität mündlicher Alltagsrede zu verwechseln sei. Mittelalterliche Texte sind nicht fest, jedoch ist der Grad an Verfestigung bei schriftlichen, mündlich vorgetragenen Texten größer. Je schriftlicher Texte werden, desto abstrakter werden sie vor einer konkreten Vortragssituation. Der Status „kultureller Text“ (J. Assmann) bedeute, ein Text sei nicht so wortwörtlich wie, aber sozialer als ein „heiliger“ Text.

Trotzallem überwiege der Anteil an Festigkeit auch in mittelalterlichen Texten den der Varianz. Es gibt etwas, das alle Varianten gemeinsam haben, weshalb man sie gruppieren kann. Man muß sich fragen, durch welche Parameter in mittelalterlichen Textvarianten Identität gestiftet wird. Was variant sei, trete sehr unterschiedlich in Erscheinung und man könne deshalb unterschiedliche Typen von Varianz herausarbeiten. Eine geeignete Beschreibungssprache, die Varianz nicht an etwas Fixem festmacht, fehle aber.

Müller kristallisiert nun drei Arten von Varianz heraus und macht Vorschläge zum Umgang damit. Da sei 1. Varianz, die zu Textverderbnis führe, d.h. kleine Fehler und Unaufmerksamkeiten der Schreiber und Kopisten. Diese dürfe man ausmerzen. Da seien 2. Texte, die gehaltlose Varianzen aufweisen, also irrelevante Abweichungen. 3. gäbe es bewußt vorgenommene Änderungen, verantwortete Eingriffe. Diese erfüllen die Kriterien für verschiedene Fassungen.

Müller spricht sich abschließend für die Edition von Textfassungen, ergo gegen die Edition von Urtexten aus.

Quelle: Aufführung – Autor – Werk. Zu einigen blinden Stellen gegenwärtiger Diskussion. In: Mittelalterliche Literatur und Kunst im Spannungsfeld von Hof und Kloster, hg.v. N.F.Palmer u. H.-J.Schiewer, Tübingen 1999, S.149-166.

Probleme der Transkription

Dienstag, 13. April 2010

Während des Abgleichs der Originalnotation der vier französischen Lais im „Roman de Fauvel“ (F-Pn fr. 146) mit der modernen Transkription Tischlers [„The Monophonic Songs in the ‚Roman de Fauvel'“, 1991] bin ich auf eine spannende Problematik der Übertragung frankonischer Mensuralnotation gestoßen. Im 2. Versikel des 4. Lais („En ce douce temps de mai“) folgen zwei einzelne Breven (B) einem punctum divisionis, dann kommt eine Conjunctura mit einer Brevis (B) und zwei Semibreven (SS), anschließend folgen wieder zwei einzelne Breven und letzthin steht eine Longa (L) mit Pause.

Tischler überträgt hier im 6/8-Takt eine Achtel und eine Viertel für die zwei ersten Breven, dann drei Achtel für die Conjunctura, dann wieder eine Achtel und eine Viertel und am Ende eine Viertel mit Achtelpause. Auffällig ist, dass Tischler sich trotz perfekten Modus‘ und abwesender Divisionspunkte innerhalb der Folge für eine Paarigkeit der Breven entscheidet. Das führt einerseits dazu, dass er die jeweils zweite Brevis von einem tempus auf zwei tempora alterieren muß, um die Perfektion zu vollenden. Andererseits muß er nach demselben Prinzip das Semibrevispaar in der Conjunctura, das insgesamt eigentlich den Wert einer Brevis recta (1 tempus) hätte, ebenfalls auf zwei tempora alterieren.

Es scheint, als wolle Tischler an dieser Stelle die Ligatur (conjunctura) unbedingt in eine eigene Perfektion zwängen, obwohl er an anderen Stellen die Aufteilung einer Ligatur auf verschiedene Perfektionen durchaus zuläßt. Die Ligatur an dieser Stelle zu teilen, würde durchaus eine sinnvolle (vielleicht sogar sinnvollere) Transkription ergeben. Die Notenfolge BB BSS BB L im Original kann m.E. auch ohne weiteres als BBB SSBB L aufgefaßt werden. In diesem Falle würde ich im 6/8-Takt drei Achtel, zwei Sechzehntel (bzw. kurz/lang, lang/kur bei perfektem Tempus), zwei Achtel und eine Viertel mit Achtelpause übertragen. Um vollständige Perfektionen zu erhalten, müße man also nicht die Breven, bzw. das Semibrevispaar alterieren, sondern lediglich die Ligatur auf zwei verschiedene Perfektionen aufteilen.

Da Tischler aber auch an anderen Stellen das Aufteilen von Ligaturen, wenn es irgendmöglich ist, vermeidet, bin ich mir mit dieser Lösung unsicher. Ich weiß nicht, ob es eine stille Regel irgendeines zeitgenössischen Theoretikers gibt, die besagt, dass eine Ligatur immer als innerhalb einer Perfektion gelegen betrachtet werden muß. Ich weiß auch nicht, ob die Semibrevis in dieser Zeit lediglich als Teilwert der Brevis recta oder auch als Teilwert der Brevis altera begriffen wurde. Ist die Teilung einer Ligatur gerechtfertigt, ist die Alteration eines Semibrevispaares gerechtfertigt? Und wenn eine Auflösung ohne einen dieser beiden „Tricks“ nicht möglich ist, für welchen entscheide ich mich dann?

Tischler entscheidet offenbar zugunsten der Alteration. Ich würde wohl zugunsten der Aufteilung der Ligatur auf verschiedene Perfektionen entscheiden. Zumal der rhythmische Sachverhalt, den Tischler überträgt (12 111 12 3) auch sehr einleuchtend mit einer Brevis-Ternaria hätte fixiert werden können. Der mittelalterliche Schreiber konnte sich ja auch nicht aussuchen, an welcher Stelle er Ligaturen setzt, sondern nur welche Ligaturen er setzt. Wenn eben ein Melisma über die Perfektion hinaus geht, warum sollte man dann keine Ligatur schreiben? Dass eine zeitgenössische Regel, in Ligaturen zu binden, was irgendmöglich in Ligaturen zu binden ist, existierte, ist in der Fachwelt bekannt.

Um hierüber mehr Klarheit zu bekommen, müßte ich mir mehrstimmige Stücke in schwarzer Mensuralnotation heraussuchen und schauen, ob sich an ähnlich verzwickten Passagen bei der Teilung von Ligaturen oder der Alteration von Semibrevispaaren die sinnvollere Mehrstimmigkeit ergibt. Leider fehlt mir dafür momentan die Zeit und leider (oder charakteristischerweise) sind die Lais im „Roman de Fauvel“ einstimmig. Deshalb werde ich diese spezielle Frage wohl auch eher nicht in meiner aktuellen Arbeit zu Stil und Rhythmus der vier französischen Lais im „Roman de Fauvel“ behandeln.

#update: Mir fällt gerade ein, dass es ja durchaus auch Ligaturen gibt, die insgesamt länger als eine Perfektion sind und die schon allein deshalb geteilt werden müssen. Allerdings beziehe ich mich dabei eher auf Ligaturen, an denen nur Longae und Brevis beteiligt sind.

Ein musikalisches Rätsel

Samstag, 08. August 2009

Obwohl es sich bei Machauts Lied „Ma fin est mon commencement“ nachgewiesenermaßen um ein dreistimmiges Rondeau handelt, sind in den Quellen nur zwei Stimmen notiert. Des Rätsels Lösung liegt im Text des Gedichtes, der eine versteckte Spielanweisung für die notierte Musik ist. Ich möchte in diesem Beitrag zeigen, wie man ein solches Stück aus den mittelalterlichen Handschriften rekonstruieren und in eine moderne Fassung übertragen könnte. Am Ende wartet auch eine Audiodatei darauf, angehört zu werden.

Ma fin est mon commencement

Eigentlich untersuche ich seit geraumer Zeit die vier französischen Lais im „Roman de Fauvel“, genauer, deren Rhythmus. Deshalb schlage ich mich momentan mit spannenden Fragen der musikalischen „Übersetzung“ mittelalterlicher Notationsformen herum, die, insbesondere in Bezug auf die rhythmische Interpretation, machmal wirklich knifflig sind. Das beginnt bei mathematischen Aspekten der Mensur und geht bis hin zu Theorien über den Stil bestimmter Gattungen zu bestimmten Zeitpunkten ihrer Entwicklungsgeschichte.

So weit möchte ich heute aber nicht gehen, sondern einfach einmal Einblicke in die beinahe cryptographische Arbeit mit mittelalterlichen Musikhandschriften geben. Dafür habe ich mir das dreistimmige Rondeau „Ma fin est mon commencement“ des Ars Nova Komponisten Guillaume de Machaut ausgesucht. Ich kenne es schon seit geraumer Zeit, habe mich jedoch nie intensiv damit auseinandergesetzt. Das soll sich heute ändern. Das Interessante an dem Stück ist, dass es sich um ein musikalisches Rätsel handelt, denn es ist nur zu zwei von drei Stimmen Musik notiert. Man kann also gar nicht sehen, dass es sich um ein dreistimmiges Lied handelt. Der Schlüssel zu diesem Rätsel liegt im Text.

Ma fin est mon commencement
et mon commencement ma fin
Et teneure vraiement
ma fin est mon commencement.
Mes tiers chans ⋅iij⋅ fois seulement
de retrograde : et einsi fin.
Ma fin est mon commencement
et mon commencement ma fin.

Nun bin ich leider keine Romanistin, aber ich hatte Französisch in der Schule und Latein in der Uni und bekomme die ungefähren Eckpunkte dieses Altfranzösischen Textes über den Daumen gebrochen. Außerdem hilft auch das Layout der Manuskripte beim Verständnis des Textinhalts.

Die Quellen: Mach. Ms A, G und E

Ich arbeite mit drei Faksimiles (s/w Kopien) der Machaut Handschriften Ms A, Ms G und Ms E, die ich zufällig hier zuhause habe. Von den dreien ist Ms A (F-Pn fr 1584), die wohl nach 1350, aber vor 1370, also noch zu Guillaumes Lebzeiten, entstanden ist, die älteste und damit dem Komponisten nahestehendste. Ms G (F-Pn fr 22545-46) ist nach Guillaumes Tod gefertigt worden, ist aber die von meinen drei Exempeln am besten lesbare. Ms E (F-Pn fr 9221) ist für Jean, Duc de Berry, geschrieben (das ist der mit den „Très riches heures“), enthält z.T. erheblichen Abweichungen und ist als Kopie wirklich schwer zu erkennen, eigentlich keine gute Referenz. Ich konzentriere mich auf die Fassung in G und ziehe A und E nur an den kniffligen Stellen heran.

Die Oberstimmen: Cantus + Ténor

In Handschrift G findet sich unser Rondeau in der linken Kolumne des Folio 153 recto. Die mit den beiden ersten Versen des Gedichtes textierte Stimme steht voran, dann folgt der untextierte Contratenor und anschließend der Text der restlichen sechs Verse. Der unter der obersten Stimme, dem Cantus, notierte Text steht jedoch auf dem Kopf und beginnt beim Finalis, dem Schlußton des Stückes: Mein Ende ist mein Anfang und mein Anfang mein Ende, heißt es in den ersten beiden Versen, woraus man schließen kann, dass die Melodie des Cantus also der Krebs (d.h. von rechts unten nach links oben gelesen) der von links oben nach rechts unten notierten Melodie ist.

Der Ténor ist ‚vraiement‘, heißt es weiter, woraus sich auf die Melodie der zweiten Stimme schließen läßt, die nämlich der Krebs der ersten ist, d.h. das, was dort ‚vraiement‘ in der bekannten Schreibweise von links oben nach rechts unten notiert ist. Aber was ist da eigentlich notiert und paßt das überhaupt so zusammen, wie es der Text vorsieht?

Die Abbildung zeigt den Ténor, wie er in Ms G notiert ist, jedoch ohne Angaben von Tonhöhen. Wir sehen zwei Phrasen à 40 Breves, die im tempus imperfectum cum prolatio minor notiert sind, d.h., eine Longa hat die Dauer von zwei Breves, eine Brevis die von zwei Semibreves und jede Semibrevis die von zwei Minimae. Das entspricht (Fachleute mögen mich für diese Aussage schlagen) ungefähr dem, was heute ein 2/4-Takt wäre.

Tempus imperfectum cum prolatio minor

Diese Mensur war für mich zunächst nicht sofort erkennbar (und ist ja auch nicht unbedingt ‚klassisch‘ für diese Zeit), da ich die Minimae-Pausen auf der fünften und siebenten Brevis für Divisionspunkte gehalten und mich darüber gewundert hatte, dass dazwischen nur sieben Minimae in der Perfektion waren. Weil sieben Minimae weder in eine perfekte, noch in eine imperfekte Mensur passen, hatte ich mir schon wunderbare Theorien über die Alteration der letzten Minima zurechtgelegt, als mir klar wurde, dass das ein Holzweg war und es sich bei den vermeintlichen Punkten um Pausen handelte.

(Man muß bedenken, es handelt sich um s/w Kopien von Handschriften und nicht etwa um eine gestochen scharf gedruckte Notenedition. Da kann man einen Fussel auf dem Kopiergerät manchmal nicht von einem Haarstrich an einer Note oder ähnlichem unterscheiden. Ich nenne soetwas liebevoll „Fliegenschiß“ und ein Fliegenschiß könnte eben alles mögliche sein.)

Man nennt den in den Machaut-Manuskripten festgehaltenen Stand der Entwicklung der Musiknotation „schwarze Mensuralnotation“ und es gibt keinen Zweifel daran, dass auch „Ma fin est mon commencement“ in dieser Form notiert ist. (Zum Vergleich: Die Lais im „Roman de Fauvel“ sehen von den Zeichen her ganz ähnlich aus, sind aber dennoch mit größerer Vorsicht zu genießen, weil gleiche Zeichen nicht immer auch die gleiche Bedeutung haben.)

In der Zeit der schwarzen Mensuralnotation existieren die perfekten und imperfekten Mensuren nebeneinander, d.h. ein Notenwert kann entweder in drei (perfekt) oder in zwei (imperfekt) Noten des nächstkleineren Wertes geteilt werden und zwar auf jeder Verhältnisebene individuell. Das Verhältnis zwischen Brevis und Longa heißt „modus“, das zwischen Semibrevis und Brevis „tempus“ und das zwischen Minima und Semibrevis ist die „prolatio“. In der Ars Nova (das ist die dazugehörige Stil-Epoche) rückt die Prolatio in den Fokus; die bloße Anwesenheit von Minimae ist also ein erster Hinweis darauf, dass es sich um Musik nach 1300 handelt.

Da es noch keine Taktangaben oder gar Taktstriche gibt (das gesamte Konzept „Takt“ ist der mittelalterlichen Musik fremd, weshalb auch moderne Transkriptionen in Taktform der Musik solcher Stücke nur teilweise gerecht werden) kann man das Verhältnis der Noten nur aus deren Zusammenhang in einem konkreten Stück erkennen. Die Anfangsfolge L SBS MMMM MSM eignet sich ganz gut zur Bestimmung der Mensur. Man kann sie „von hinten“ aufschlüsseln: 2M = 1S, 2S = 1B und 2B = 1L. Wenn man die Brevis als Grundduktus annimmt, hat die obige Folge eine Dauer von sechs Breves und ein Mensurverhältnis von 1 : 2 : 4.

Wenn wir wieder den gesamten Ténor betrachten und bedenken, dass die Oberstimme laut Instruktion im Krebs dagegen gesungen werden soll, ist es also von Vorteil, dass beide Phrasen die exakt gleiche Länge von 40 Breves haben, weil sie dann gemeinsam beginnen und aufhören können. Die Oberstimme singt also auf den Text des ersten Verses die Melodie der 2. Phrase rückwärts, während der Ténor zugleich die 1. Phrase vorwärts singt. Dann singt die Oberstimme den Text des zweiten Verses auf den Krebs der Melodie der ersten Phrase, während der Ténor die Melodie der 2. Phrase vorwärts singt. Daraus ergibt sich für die beiden Stimmen die Konstruktion eines Kreuzkanons, womit der erste Teil des Rätsels (Wo ist die dritte Stimme?) eigentlich gelöst wäre.

Das Rondeau, eine Refrainform

Bleiben aber noch die Fragen: Was tut der Contraténor währenddessen und was passiert eigentlich mit dem Text der übrigen sechs Verse? Letzteres ist schnell erschlossen, wenn man sich die Gedichtstruktur anschaut:

AB aA ab AB

Es handelt sich um ein klassisches Rondeau, das heißt, die Melodie wird nach dem Reimschema des Textes immer wieder wiederholt. Alle Verse, die auf „-ment“ enden, singt die Oberstimme auf den Krebs der Melodie der 2. Phrase (A) und alle Verse, die auf „fin“ enden, auf den Krebs der 1. Phrase (B) und zwar in der Reihenfolge der Verse. Der Ténor schließt sich melodisch jeweils über kreuz der Oberstimme an. Ob er textiert (gar über Kreuz: Et mon commencement ma fin / ma fin est…“) oder vokalise gesungen oder eventuell sogar von einem Instrument gespielt wird, bleibt offen und also dem dem Gusto des Aufführenden überlassen.

Der Contraténor: Eine Stimme – viele Möglichkeiten

Die Stimme des Contratenors ist hingegen definitiv untextiert und sie sieht mit ihren großen Intervallsprüngen sogar so aus, als sei sie für den instrumentalen Vortrag gedacht. Was hier notiert ist, zeigt die folgende Abbildung.

Die Mensur ist augenscheinlich dieselbe, wie die bereits von den beiden Oberstimmen her bekannte. Jedoch hielt ich auch hier eine Pause fälschlicherweise für einen Divisionspunkt und eine Longa plicata für eine Brevis, weshalb mich der Mittelteil der Stimme zunächst in großer Verwirrung zurück ließ und ich die beiden anderen Quellen zurande zog.

An der kritischen Stelle zwischen der 8. und der 26. Brevis (s. Auszug) unterschieden sich beide Handschriften in winzigen Details. Es wunderte mich nicht, dass offenbar auch die Schreiber so ihre Probleme mit der verzwickten Stelle gehabt zu haben schienen und mit den Unterschieden Hinweise auf ihre Interpretation gaben. Als ich bemerkte, dass der vermeintliche Divisionspunkt in A aber doch ziemlich lang geraten war, kam mir erstmals der eigentlich nicht abwegige Gedanke an Pausen. Es machte Sinn in A von einer Brevispause auszugehen, denn obwohl es auf der 14. Brevis zu einer bis zur 22. Brevis andauernden kurzzeitigen Verschiebung um eine Minima kam, ergab sich für den Contraténor insgesamt eine Länge von 40 Breves.

Auch mit der Spielanweisung meine dritte (Stimme) singe nur dreimal hätte das halbwegs hingehauen, da zumindest die Phrasenlänge mit der der Oberstimmen kongruent ist. Solche Minimalverschiebungen, wie sie sich aus A ergeben, sind mir von Stücken der Ars Subtilior (der auf die Ars Nova folgenden Epoche) bekannt. Sie hier anzutreffen, wäre ungewöhnlich, aber nicht vollkommen ausgeschlossen und einem Komponisten wie Machaut durchaus zuzutrauen.

Derartige Sophismen sind in unserer heutigen Notation nur schwer übertragbar und mein Lieblingsbeispiel dafür, dass taktierte Trankspriptionen in Sachen Lesbarkeit den Originalen durchaus nicht immer vorzuziehen sind. Ebenso wie man ein Lied von Mendelssohn nur schwer in Mensuralnotation fixieren kann, kann man mensurierte Stücke nur schwer in unsere klassische Notenschrift übertragen. Es ist das übliche Dilemma des Übersetzers, der damit konfrontiert ist, den Verlust des Mehrwertes des einen Zeichensystemes bei der Übertragung in ein anderes möglichst nicht zu schermzlich aussehen zu lassen. Es ist immer am schönsten, ein Gedicht in der Originalsprache zu genießen, sofern man diese gut genug beherrscht, um die Feinheiten wahrzunehmen.

Wobei ich wieder bei meinem Problem, nicht gut genug Altfranzösisch zu sprechen, angelangt wäre. Was genau heißt denn nun: „Mes tiers chans ⋅iij⋅ fois seulement de retrograde : et einsi fin“? Singe mich dreimal vorwärts und dann einmal von hinten bis zum Ende oder dreimal rückwärts und dann einmal vorwärts? Ich weiß es nicht genau, deshalb muß ich ausprobieren, welche Variante im Zusammenhang mit den beiden Oberstimmen am wahrscheinlichsten erscheint.

Der Stimmverlauf

Die Oberstimme hat insgesamt acht Verse auf zwei Melodien (A + B) mit je 40 Breves zu singen. Wenn also der Contraténor dreimal in die eine Richtung, dann einmal in die andere Richtung gesungen und anschließend eben dieser Ablauf bis zum Ende einmal komplett wiederholt wird, dann würden alle drei Stimmen zum selben Zeitpunkt anfangen und aufhören. Die Frage ist, in welche Richtung wird zuerst gesungen, vorwärts oder rückwärts?

Aufschluß darüber geben die Initial- und Finaltöne der einzelnen Stimmen. Der Tenor beginnt Phrase B vorwärts mit einem c und beendet diese mit einem h, dann folgt Phrase A vorwärts, beginnend mit einem d und endend mit einem c. Die Oberstimme beginnt Phrase A von hinten mit einem c, beendet sie mit einem d, singt anschließend von h aus rückwärts die Phrase B bis zur Finalis c. Der Contraténor beginnt vorwärts mit c und endet mit d, während er rückwärts mit d beginnt und mit c endet. In Anbetracht der Tatsache, dass mehrstimmige Lieder in dieser Zeit überwiegend auf reinen Konsonanzen anfangen und enden und dissonante Intervalverhältnisse wie Sekunden auf Haltetönen eigentlich undenkbar ist. Gehe ich davon aus, dass der Contraténor immer dann vorwärts gesungen wird, wenn die Oberstimme Phrase A rückwärts singt und immer dann rückwärts gesungen wird, wenn der Tenor Phrase A vorwärts sind. Daraus ergäbe sich ungefähr dieser Ablauf.

Die Anweisung „dreimal vorwärts, dann einmal rückwärts“ für die dritte Stimme, den Contraténor, trifft also genau für den Teil des Liedes zu, in dem von der Oberstimme nicht der Refrain, d.h. die Verse 1/2 und 7/8 intoniert werden. Den Rest („et einsi fin“) wurschtelt man sich dann irgendwie so hin, wie man das braucht, damit sich Harmonie zwischen den drei Stimmen einstellt.

Diplomatie, Transkription und Audio

Am Ende meiner ganzen Überlegungen soll nun natürlich eine Transkription in unsere moderne Notenschrift stehen, mit der auch jemand etwas anfangen könnte, der in Fragen der Mensuralnotation weniger bewandert ist (das, im Übrigen, dürfte auf den Großteil der Menschheit zutreffen, selbst wenn man nur die Gruppe der geschulten Musiker betrachtet). Das PDF ist mitnichten die Offenbarung der Editionskunst, unter Mühen konvertiert aus einem Finale2004 .mus-File. Aber ich denke, es dürfte trotzdem reichen, um ein Verständnis von „Ma fin es mon commencement“ zu vermitteln.

machaut-r14.pdf

Ich habe in der Edition den Text entsprechend des Ablaufs unter dem Cantus ergänzt und mit einer Versnummerierung versehen. In Vers drei mußte ich nach Gutdünken schummeln, da dieser, sofern ich mit meinen Vermutungen über die Altfranzösische Silbentrennung richtig liege, eine Silbe zu wenig hat. Ich habe # direkt vorgezeichnet, wo sie im MS notiert sind und in der näheren Umgebung übergeschrieben, wo sich mi-fa-Konstellationen ergeben. In Klammern stehen jene Vorzeichen, die ich in der Midi-Aufnahme (s.u.) weggelassen habe, weil ich das klanglich interessanter so fand. Wo sich im Manuskript Ligaturen befinden, sind eckige Klammern über die Noten gesetzt. Auf der 10. Brevis des Contraténors steht eigentlich eine Longa plicata ascendens. Ich habe diese nicht als Stichnote gesetzt, sondern durch den Hinweis „plic. asc.“ kenntlich gemacht. In der Midi-Aufnahme hört man nur eine Longa auf d.

Der Grund, weshalb ich mich in der Übertragung letztlich gegen die in Ms A überlieferte Version des Contraténors entschieden habe, liegt darin, dass ich letztlich auch die Longa plicata auf der 8. Brevis, fälschlicherweise als Brevis (plicata) gedeutet hatte. Durch die Korrektion hätten sich für die Version in Ms A 41 Breves in der dritten Stimme ergeben. In Anbetracht der Tatsache, dass aber Ms E auf der Position der 8. Brevis sogar drei Breves in Folge und keine einzige Longa notiert, könnte man eine gewisse Nachlässigkeit im Umgang mit Brevis und Longa (z.B. zugunsten der spannenden Minimalverschiebung) an der Stelle vielleicht mit einem Augenzwinkern durchgehen lassen. Variationen sind denkbar und sicherlich keine Entdeckung der Neuzeit. Vielleicht hat ja jemand Lust, soetwas mal zu edieren und zu schauen, ob es überhaupt klingt.

Zum Vergleich stelle ich auch noch eine diplomatische Abschrift der Version Ms G zur Verfügung. Es ist leider aus urheberrechtlichen Gründen nicht erlaubt, Faksimiles zu veröffentlichen, was eigentlich eine Schande ist, wenn man bedenkt, seit wievielen Jahren die Urheber des Stückes und der Handschriften bereits tot sind. Zum Glück gibt es inzwischen Bemühungen, der Öffentlichkeit Digitalisate mittelalterlicher Manuskripte zur Verfügung zu stellen, so dass man damit arbeiten kann, ohne diese wirklich wertvollen, alten Bücher unnötig zu strapazieren. Diese Bestrebungen müssen m.E. dringend vorangetrieben werden – da bin ich auch gern behilflich.

Und weil mittelalterliche Musik auf dem Papier zwar hübsch aussieht, aber wie jede andere Musik erklingen sollte, gibt es am Ende nun auch noch ein von einem Computerprogramm erstelltes, in das .mp3-Format konvertieres Midifile für den Höreindruck (wobei Eindruck an dieser Stelle hinsichtlich der Qualität nicht unbedingt mit „beeindruckend“ zu verwechseln ist). Das ist zwar kein Ersatz für eine Aufnahme mit Stimmen, Text und Instrumenten, aber vielleicht gerade deshalb ein Ansporn, sich an einer solchen einmal zu probieren.

[audio:machaut-r14.mp3]

Achso, falls sich unter meinen Lesern rein zufällig ein Romanist finden sollte, würde ich mich über eine deutsche Übersetzung des Textes in den Kommentaren freuen. 😉

Historisches Archiv Köln

Montag, 09. März 2009

Ich war letzte Woche auf dem 13. Symposion des Mediävistenverbandes in Bamberg, das unter dem Leitthema „Farbiges Mittelalter“ stand, als die Nachricht vom Einsturz des Stadtarchivs bei uns eintraf. Die Stimmung glich ein wenig der nach den Angriffen auf das World Trade Centers. Bestürzung und Fassungslosigkeit beherrschte die Szenerie. Seitdem habe ich die Nachrichten zum Thema ein wenig verfolgt und wie immer hinkt die öffentliche Berichterstattung den Rundmails und Insiderinformationen hinterher. Lange war aber unklar, wie die Bergungsarbeiten vonstatten gehen, in welchem Zustand die geborgenen Archivalien sind und inwiefern fachkundige Hilfe vor Ort benötigt wird. Heute morgen habe ich ein Rundschreiben des Vereins der Archivare erhalten, in dem diese Punkte beleuchtet werden.

Es hat sich bereits ein Krisenstab aus Vertertern der Stadt, des Historischen Archivs, der Berufsfeuerwehr Köln, des Landesarchivs NRW, den Archivämtern von LVR und LWL sowie der ARGE der Stadtarchive im Städetag, des VdA und von Restauratoren gebildet, der die Bergung und Sicherstellung der Archivalien plant und koordiniert. Rechtzeitig vor dem Einsätzen der Regenfälle konnte der Trümmerberg mit einer Plane abgedeckt werden. Der Aufbau eines Dachs verzögerte sich, da die Standfestigkeit des gegenüberliegenden Gymnasiums unklar war. Inzwischen ist wohl ein Drittel des Trümmerbergs überdacht und der Bau soll in den nächsten Tagen abgeschlossen werden.

Feuerwehrleute tragen die Archivalien mit den Händen fachgerecht von der Unglücksstelle ab, wobei es sich zunächst um Stücke handelt, die bei der Bergung der Vermißten und der Räumung der Stellen, die für den Dachtbau geräumt werden mußten, gefunden wurden. Von Archivaren, Restauratoren, Museumsangestellten und anderen fachkundigen Kräften werden diese Stücke vor Ort einer ersten Sichtung unterzogen und verpackt. Sie sind in unterschiedlichem Zustand, einige Akten und Archivkartons sind beinahe unmittelbar wieder benutzungsfähig, andere Archivalien sind arg in Mitleidenschaft gezogen worden. Nasses Material wird aussortiert und die mit LKW abtransportierten Schuttreste werden in einer gesonderten Halle durchgesehen und aussortiert. Abgesehen von den Rettungskräften der Feuerwehr, des THW (u.a.) sind 40-50 fachkundige Personen im Dreischichtbetrieb 24/7 im Einsatz, um das Archivgut zu sichten und für die Einlagerung vorzubereiten, bzw. zur Einfrierung zu verpacken.

Derzeit wird eine größere Halle gesucht, in der langfristig die Arbeitsbedingungen und die Sortierarbeiten besser vonstatten gehen können. Auch Magazinflächen werden benötigt. Angebote sollen an das LVR-Archivberatungs- und Fortbildungszentrum, z. Hd. Herrn Dr. Arie Nabrings, rafo@lvr.de, gerichtet werden. In erster Linie ruft der VdA aber in seinem Rundschreiben zur Mithilfe von fachkundigen Kolleginnen und Kollegen auf, sowohl Archivare als auch Restauratoren werden gebraucht. Hilfsangebote sollen über die Dienststellen der Helfer koordiniert werden, wobei Name, Vorname, Dienststelle, Ort, Telefonnummer, Email-Anschrift und Dauer des Einsatzes in einer Exeltabelle erfaßt und an rwwa@koeln.ihk.de (Archivare) oder bert.jacek@fh-koeln.de (Restauratoren) gesandt werden.

Die personelle Hilfe ist zunächst das Wichtigste, doch auch finanzielle Unterstützung in Form von Spenden und materielle Hilfe werden gerne angenommen. Eine Zusammenstellung über Hilfsmöglichkeiten bietet Archivalia unter http://archiv.twoday.net.

Aussprache des Mittelhochdeutschen

Montag, 19. Januar 2009

Als Mediaevistin bin ich ja oft mit der Frage, „Und was kann man damit später mal machen?“, konfrontiert. Eine absolut naheliegende und logische Antwort darauf ist, dass man damit schon jetzt sehr gut besserwisserische Kommentare bezüglich der Aussprache mittelhochdeutscher Liedtexte abgeben kann. Und wer jetzt glaubt, in solche Verlegenheit komme man sowieso nie, der wird sich spätestens dann wundern, wenn er (wie ich derzeit mal wieder) in Chorproben sitzend die Carmina Burana von Carl Orff einstudiert. Diese enthält nämlich neben überwiegend mittellateinischen auch einige mhd. Texte, zu deren Aussprache dann immer viele Experten ihre Meinung kundtun. Diesen will ich mich hiermit anschließen.

Vorbetrachtungen

Das Phonemsystem des Mittelhochdeutschen (einer Sprachstufe in der Zeit von ca. 1050-1350) ist Gegenstand einer sprachwissenschaftlichen Rekonstruktion und resultiert aus der sogenannten 2. Lautverschiebung. Im Zuge dieser 2. LV hat sich das Hochdeutsche (im Unterschied zum Niederdeutschen) aus dem westgermanischen Sprachverband abgespalten, was sich an einigen Lautwandelerscheinungen nachvollziehen läßt.

Um die im Folgenden aufgeführten Aussprachekonventionen richtig beurteilen zu können, ist es zunächst wichtig, sich über drei Dinge klar zu werden: 1. Es gab in der Zeit zwischen 1050 und 1350 keine regional übergreifende, mittelhochdeutsche Einheitssprache, sondern eine Sammlung an Dialekten. 2. Alle Mutmaßungen hinsichtlich deren Aussprache basieren auf wenigen Quellen, die diese dialektalen Mundarten mithilfe eines fremden (nämlich des lateinischen) Alphabets exemplarisch fixieren. 3. Diese graphische Fixation folgt in der Rechtschreibung keiner Normierung und variiert nicht nur von Text zu Text, sondern oftmals sogar von Vers zu Vers. Dadurch dass man aber „schrieb wie man sprach“ lassen sich teilweise Rückschlüsse auf das Phonemsystem ziehen. Vieles bleibt dennoch strittig. Thordis Hennings1 schreibt dazu:

Bei der Bezeichnung „Mittelhochdeutsch“ [handelt es sich] an und für sich um einen Sammelbegriff, der eine Vielzahl unterschiedlicher Schreibdialekte in sich vereint. Aber bis zum Zenit der höfischen Dichtung um die Wende vom 12./13. Jh. entwickelte sich so etwas wie eine überregionale höfische Dichtersprache, die dadurch gekennzeichnet ist, dass dialektale Besonderheiten stark zurückgedrängt werden. Diese mhd. klassische „Einheitssprache“ beruht vor allem auf allemannischer und ostfränkischer Grundlage.

Hennings Aussage muß relativiert werden. Der Eindruck von Einheit entsteht in der Retrospektive evtl. nur aufgrund der Überlieferungslage höfischer Dichtung und den daraus erwachsenen Interessenschwerpunkten der historischen Sprachwissenschaft. Er muß sich bei eingehender Betrachtung ripuarischer und thüringischer Quellen der geistlichen oder bürgerlichen Literatur nicht zwangsläufig bestätigen. Für unsere Carmina Burana ist dies nur von marginaler Bedeutung. Denn die Handschrift des Codex Buranus wurde im bairischen Sprachraum, also in unmittelbarer dialektaler Nähe zum Alemannischen und Ostfränkischen niedergeschrieben und enthält Texte, die u.a. Walther von der Vogelweide zugeschrieben werden, der ebenfalls in diesem Sprachraum tätig war.

Es kann demnach nicht vollkommen verkehrt sein, sich mit der Aussprache der mittelhochdeutschen Liedtexte der Carmina Burana an den von Sprachhistorikern aufgestellten Konventionen für das „klassische“ Mittelhochdeutsch zu orientieren. Hierbei gilt, dass sich im gesamten oberdeutschen Sprachraum (alemannisch, bairisch, ostfränkisch und südrheinfränkisch) die 2. Lautverschiebung vollständig vollzogen hat. Man sagt dort auch heute noch ich und Apfel und nicht wie im niederdeutschen Berlin ick und Appel.

Zur regionalen Verteilung der hochdeutschen Mundarten s. Karte südlich der Benrather Linie. (Quelle: Uni Wien)

Aussprache des Mittelhochdeutschen

Die meisten mittelhochdeutschen Textausgaben sind (wenn auch mit unterschiedlicher wissenschaftlicher Akribie) in ihren Schreibweisen normalisiert, so dass sich die phonetische Ausführung von Silben und Worten aus der graphischen Umsetzung „ablesen“ läßt. Ich erkläre die Aussprache deshalb zunächst an den üblichen Graphemen, später dann an den Texten der Carmina selbst.

  • /a/, /e/, /i/, /o/, /u/, /ä/, /ö/, /ü/: Kurze Vokale sind beim Sprechen deutlich von langen zu unterscheiden. Durch die Existenz kurzer, offener Tonsilben unterscheiden sich das Mhd. geradezu charakteristisch vom Neuhochdeutschen. Es heißt im Mhd. tac [tack], nemen [nemmen], vil [fill], loben [lobben] und tugent [tuggent]. Ebenso verhält es sich mit den kurzen Umlauten.
  • /â/, /ê/, /î/, /ô/, /û/, /æ/, /œ/, /iu/ (iu = langes ü): Im Unterschied dazu gibt es einige lange Vokale, die in den meisten Ausgabe durch Zirkumflex ^ gekennzeichnet sind. Fehlt diese Kennzeichnung (wie oftmals in unserer Notenausgabe der Carmina Burana) muß man auswendig wissen, welche Worten lange Vokale enthalten. (Tipp: Die kurzen Vokale überwiegen.) Es heißt im Mhd. dâhte [daachte], gelêret [gelehret], mîn [mien], [soo] und ûf [uhf]. Die langen Umlaute werden als Ligaturen geschrieben und sind daran zu erkennen, wobei die Kombination /iu/ für das lange /ü/ steht. Es heißt im Mhd. swære [ßwääre], hœren [höören] und triuwe [trüüwe].
  • /ei/, /ou/, /öi/, /ie/, /uo/, /üe/: Die Diphtonge sind deutlich zweitonig zu sprechen, verschmelzen aber zu einer Silbe. Dabei liegt die Betonung auf dem ersten Vokal und fällt nach hinten ab, ähnlich wie es im heutigen Bairisch gesprochen wird. Es heißt im Mhd. ein [éyn], schouwe [schóuwe], vröide [fröide], dienest [díenest], buoch [búoch] und süeze [süeße].
  • /h/, /lh/, /rh/, /ht/, /hs/: Das Graph /h/ ist im Anlaut und zwischen Vokalen ein zum Nhd. identischer Hauchlaut (wie in Herr und sehen). In den Kombinationen /lh/, /rh/, /ht/ und /hs/ versteht es sich jedoch als gutturaler Reibelaut. Damit ist evtl. immer der velare Ach-Laut [x] gemeint. In Verbindung mit vorderen Vokalen (e, i, ü) und Sonanten (l, r) könnte es aber schon zu einer Palatalisierung als Ich-Laut [ç] gekommen sein. Der durchgehend velare Gebrauch ist heute nur in der Schweiz, jedoch nicht im bairischen Sprachraum üblich. Ob er es damals war, ist unklar.
  • /z/: Das Graph /z/ wird im Anlaut und nach einem Konsonanten als Frikativ [tz] gesprochen, z.B. in zuo [tzuo] oder herze [hertze]. In den übrigen Fällen steht es für ein stimmloses /s/, dass dem nhd. /ß/ oder /ss/ entspricht, wie in daz [daß] oder wazzer [wasser].
  • /sl-/, /sm-/, /sp-/, /st-/, /sw-/: Das Graph /s/ wird in den Kombinationen /sl-/, /sm-/, /sp-/, /st-/ und /sw-/ nicht palatalisiert, es gibt also anders als im Nhd. hier keinen Zischlaut. Es heißt im Mhd. spil [ßpill] und swære [ßwääre].
  • /w/: Bezüglich der Aussprache des Graphs /w/ (=/uu/, /vv/) gibt es zwei Meinungen. Die eine Schule möchte es als dentalen Reibelaut wie nhd. Wasser hören, die andere als Halbvokal [ɥ] wie im engl. water. Ich persönlich schließe mich wegen der Weiterentwicklung des /w/ im Nhd. dieser zweiten These an, da mhd. frouwe im Nhd. nicht zu Fraw, sondern zu Frau geworden ist.

 

Mhd. Texte der Carmina Burana

Man erkennt, dass unsere Notenausgabe2 der Carmina Burana keine wissenschaftlich normalisierten Texte enthält. Der Gebrauch des Graphs /h/ in Endpositionen wechselt mit /ch/, einige lange Vokale sind durch Zirkumflex gekennzeichnet, auf anderen fehlen die Längenzeichen, Elisionen (bes. Vokalhiats und stumme e’s) sind nicht gekennzeichnet und in der 2. Strophe von „Chume, chum, geselle min“ ist noch ein Abkürzungszeichen (die Tilde über dem n) übernommen, das in ein Dentalsuffix aufgelöst werden muß.

Ich habe die langen und kurzen Vokale der wichtigen Wörter mit dem Mittelhochdeutschen Wörterbuch von Niemeyer3 abgeglichen, um hier eine Sicherheit hinsichtlich ihrer Aussprache zu bekommen. Das /eu/ in freudenriche ist der normalisierten Form von vröide/vröude angepaßt und wird auch so gesprochen. Ich speche alle /w/ als Semivokale, alle /ch/ hinter vorderen Vokalen als Ich-Laut – das kann man aber halten, wie man will. Um sich die mp3s anzuhören, reicht es, in der Flashanimation auf den Play-Button zu klicken.

7. Floret silva

Floret silva undique,
nah mime gesellen ist mir wê.
Gruonet der walt allenthalben.
wâ ist min geselle alse lange?
der ist geritten hinnen.
owî, wer sol mich minnen.

[nach (x) miem (i lang, e stumm) gesellen ist mirr (i kurz) weh
gru-onet (Diphtong, aber o unbetont) der walt allenthalben
wa ist mien (i lang) geselle allse lange
der ist geritten hinnen
owie, wer soll mich minnen]

[audio:floret-silva-undique.mp3]

8. Chramer, gip die varwe mir

Chramer, gip die varwe mir,
die min wengel roete,
da mit ich die jungen man
an ir dank der minnenliebe noete.

Seht mich an, jungen man!
lat mich iu gevallen.

Minnet, tugentliche man,
minnecliche frouwen!
minne tuot iu hoch gemuot
unde lat iuch in hohen eren schouwen.

Wol dir, werlt, daz du bist
also freudenriche!
ich will dir sin undertan
durch din liebe immer sicherliche.

[Kramer (a lang) gipp di-e (diphtong) farwe mirr
di-e mien wengel röte (ö lang)
da mit ich di-e jungen mann
ann irr dank der minnenli-ebe (kurz) nöte (ö lang)]
      \\ (oder „aan irr dank“, wenn „gegen ihren Willen“)

[Seht mich an, jungen mann
latt mich ü (ü lang) gefallen]

[minnet tuggentliche (u kurz) mann
minnecliche frouwen
minne tu-ot ü (lang) hoch gemu-ot
und (e stumm) latt üch (ü lang) in hohen (o lang) ehren (e lang) scho-uwen]

[woll (o kurz) dirr wärlt daß du bist
allso fröidenrieche (-rieche i lang)
ich will dirr sien undertann
durch dien li-ebe immer sicherliche]

[audio:chramer-gip-die-varwe-mir.mp3]

Swaz hie gat umbe

Swaz hie gat umbe,
daz sint allez megede,
die wellent an man
alle disen sumer gan!

[ßwaß hi-e gaat (a lang) umbe
daß sint alleß megede (e kurz)
di-e wellent aan (a lang) mann
alle disen (i kurz) summer (u kurz) gaan (a lang)]

[audio:swaz-hie-gat-umbe.mp3]

Chume, chum geselle min

Chume, chum, geselle min,
ih enbite harte din.

Suzer rosenvarwer mund,
chum uñ mache mich gesunt

[Kumme, kumm (u kurz) geselle mien (i lang)
ich enbiete (i lang) harte dien (i lang)]
Sußer (u lang) rosenfarwer (o lang) munt (u kurz, t scharf)
kumm und (mit nd) mache mich gesunt]

[audio:chume-chum-geselle-min.mp3]

10. Were diu werlt alle min

Were diu werlt alle min
von deme mere unze an den Rin,
des wolt ih mih darben
daz diu chünegin von Engellant
lege an minen armen.

[werre dü wärlt alle mien (i lang)
von demm (e stumm), meer-unß (elang, hiat) an denn Rien (i lang)
des wollt ich mich darben
daß dü (ü lang) künneginn (ü kurz) von Engellant (ng nasal)
legge (e kurz) an mienen (i lang) armen]

[audio:were-diu-werlt-alle-min.mp3]

Eselsbrücke

Als kleine Eselsbrücke bezüglich der /i/-Längen kann man sich merken, dass alle mhd. /i/ lang gesprochen werden, wenn ihre nhd. Entsprechungen zu einem /ei/ geworden sind. Also mhd. mîn wird nhd. mein, deshalb ist das /i/ im mhd. Wort ein langes /i/, ebenso mhd. vröidenrîche → nhd. freudenreich. Das /i/ ist hingegen kurz, wenn im nhd. Wort noch immer ein /i/ (kurz o. lang) steht.
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  1. Thordis Hennings: Einführung in das Mitelhochdeutsche. 2., durchgesehene und verbesserte Auflage. Walter de Gruyter, Berlin, NewYork, 2003
  2. Carl Orff: Carmina Burana. Cantiones Profanae. cantoribus et choris cantandae comitantibus instrumentis atque imaginibus magicis, Klavierauszug von Henning Brauel [ed.], Schott 1996, ED 2877
  3. Beate Henning: Kleines Mittelhochdeutsches Wörterbuch, Christa Hepfer u. Wolfgang Bachofer (Co.-Red.), Max Niemeyer Verlag, Tübingen 20014

Künstler gleich Gott

Freitag, 07. März 2008

„Künstler gleich Gott. Literarische Emanzipation bei Frauenlob“ ist die kurze Erläuterung einer These, die ich in meiner mündlichen Zwischenprüfung in Altgermanistik zur Disposition stellte. Für mich war sie vor allem deshalb spannend, weil es hier um ein neues Künstlerverständnis, nämlich den Dichter als Handwerker, geht. Da die Prüfung nur 20 Minuten dauerte und noch vier weitere Thesen zu besprechen waren, reichte die Zeit nicht für eine Vertiefung meiner Ausführungen. Aber es wäre schade, wenn ich mir all diese Gedanken gemacht hätte, um sie dann für mich zu behalten. Deshalb nun hier die Argumentation.

Künstler gleich Gott.
Literarische Emanzipation bei Frauenlob

„Frauenlobs Marienleich offenbart eine literarisch-künstlerische Emanzipation, die einhergeht mit einer individualisierenden, selbstbewußten Sichtweise auf das Verhältnis Mensch-Gott.“

Nachdem ich mich aufgrund meiner Zwischenprüfung eingehender mit Heinrich Frauenlob (= Heinrich von Meißen) und seinem Marienleich befaßt hatte, war ich zu der Auffassung gekommen, dass darin eine literarische Emanzipation zum Ausdruck kommt, in der sich ein neues Selbstverständnis des Dichters als schöpfendem Künstler offenbart.

Wir befinden uns mit dem Marienleich in einer Zeit um 1300. Aufgrund von Anspielungen in diversen Schmähschriften, die Frauenlob als Kind oder junges Meisterlein bezeichnen, nimmt man an, dass es sich um ein Jugend- oder Frühwerk des deutschen Dichter-Komponisten handelt. Das auffälligste und charakteristischste Merkmal, das wohl auch die zahlreichen Kritiker auf den Plan rief, ist die manirierte Rhetorik des Textes. Sie äußert sich in einer Fülle von schwer zugänglichen Bildern, Stilfiguren und Tropen und in diesem Falle auch in der Wahl einer komplexen und hochanspruchsvollen Bauform. Hier ist ein kleiner Auszug aus dem um die 500 Verse umfassenden Poem. Maria spricht:

ich binz, ein acker, der den weize zîtic brâhte her,
dâ mit man spîset sich in gotes tougen;
ich drasch, ich muol, ich buoc lind unt niht harte,
wan ich mit olei ez bestreich:
des bleip sîn biz sô suoze weich;
ich binz, der tou, dem nie entweich
diu gotheit, sît got in mich sleich.
mîn schar gar klâr var.
er got, si got, ich got: daz ich vor niemen spar.

(Verse 12, 25-33)

Dieser Sprachstil wird in der Literaturforschung „geblümter Stil“ genannt und er entspricht ungefähr dem hohen Stil der lateinischen Oratores, der in Lob- und Festreden gepflegt wurde. Hier finden sich linguistische Spitzfindigkeiten wie Genitivattributionen, Spiegelsymmetrie syntaktischer Kola, Parallelführungen oder seltene Wortwahl. Nun ist im gesamten Mittelalter Latein die Bildungssprache, also die Sprache der Bildungselite, die im Gegensatz zur Volkssprache nicht jedem zugänglich war. Durch die Ausschmückung der Volkssprache, wie sie im Marienleich offenbar ist, und ihre Anpassung an die lateinische Sprachästhetik passiert zweierlei: Auf der einen Seite kommt es zu einer Hermetik, da Frauenlobs Werke so nur noch einigen wenigen, speziell gebildeten Menschen zugänglich sind. Auf der anderen Seite kommt es aber auch zu einer Aufwertung der Volkssprache, wodurch eine Elite kultiviert wird, die die Volkssprache als Literatursprache kennen und schätzen lernt.

Dies birgt ein emanzipatorisches Moment, das in den Literaturen gesamt Mitteleuropas zu beobachten ist. Frauenlobs florentiner Zeitgenosse Dante Alighieri verfaßte italienische, von musikalischer Vertonung losgelöste Sonette und schrieb eine Abhandlung, „De vulgari eloquentia“, über die Angemessenheit der Volkssprachen (wohlgemerkt auf Latein). Meister Eckhart, ein deutscher Mystiker derselben Zeit, predigte in der Volkssprache, um auch dem einfachen Volk die Gottesmysterien verständlich zu machen. Ein Nachfolger Frauenlobs, der französische Dichter-Komponist Guillaume de Machaut, veranlaßte wohl die Sammlung und Konservierung seiner volkssprachigen Dichtungen. Dessen Schüler Eustache Deschamps erspinnt die Gesellschaft der boehmen Fumeurs und seine Zeitgenossin Christine de Pizan verfaßt eine Schrift in der sie die Darstellung der Rolle der Frau im berühmten „Roman de la Rose“ kritisiert. Die Volkssprache, sei es das Italienische, Französische, Englische oder Deutsche, wird mit der Lateinischen Sprache auf Augenhöhe gehoben und damit salonfähig gemacht.

In diesem Zusammenhang scheint auch der Dichter ein neues Selbstverständnis zu entwickeln. Konrad von Würzburg, ein Vorbild Frauenlobs, schrieb um 1250 die „Goldene Schmiede“, ein fast 2000 Verse umfassendes Mariengedicht von besonderem Reichtum. Obwohl die Gottesmutter mit Worten nicht hinlänglich gelobt werden könne, wie der Dichter anmerkt, wolle er in der Schmiede seines Herzens ein Loblied auf sie schmieden. Obwohl die „Goldene Schmiede“ ein Bravourstück ist, hält es der Dichter für nötig, seinen Namen in den Text einzuflechten, um auf dessen gekonnte Fertigung durch einen befähigten Künstler hinzuweisen. Eine solche Etikette braucht Frauenlobs Marienleich nicht mehr. Allein dessen Maniriertheit reicht aus, um jeden Zweifel an seiner Kunstfertigkeit auszuräumen. Beide unterstreichen ihre Künstlerauffassung aber durch bewußt gewählte Metaphern, die den Dichter als Handwerker darstellen. Während er bei Konrad Schmied ist, ist er in einem Spruch Frauenlobs Zimmermann:

Ja tun ich als ein wercman, der sin winkelmaz
ane unterlaz
zu sinen werken richtet,
uz der fuge tichtet
die höhe und lenge: wit und breit,   alse ist ez geschichtet;
und swenne er hat daz winkelrecht    nach sinem willen gezirket,
darnach er danne wirket, als man wirken kann.

(V.13.1-7)

Bei beiden tritt hier das Moment des „Wirkens“ zutage. In der Darstellung Marias geht Frauenlob aber weiter als Konrad. Nicht ihre Vermittlerposition zwischen Mensch und Gott ist zentrales Thema, sondern ihre Stellung als Zwitterpersönlichkeit zwischen Göttlichem und Menschlichem. Immer wieder wird im Zirkelschluß die von Gott geschaffene Maria in ihrer Eigenschaft als Gottesgebährerin stilisiert. Durch Maria ist Gott Mensch geworden. Dieser Schöpfungsakt scheint sie selbst gottgleich zu machen, was im Text durch ihre in exakter mathematischer Mitte positionierte Äußerung „ich got“ auch explizit geäußert wird.

Diese Darstellung Marias offenbart eine völlig neue Sichtweise auf das Verhältnis Mensch-Gott, das nicht mehr nur von der Menschwerdung Gottes, sondern auf einmal auch von der Gottwerdung des Menschen ausgeht. Diese vollzieht sich durch den Schöpfungsakt, der schöpfende Mensch rückt in die Nähe Gottes. Als in besonderer Weise schöpfender Mensch gilt sowohl Konrad als auch Frauenlob der wirkende Dichter. In seiner Meisterschaft ähnelt der dem höchsten Meister, dem schöpfenden Gott. Jahre später werden sich die Meistersinger an diesem Künstlerideal orientieren und sich zu Hauf auf Frauenlob, den Gründer der ersten Sängerschule, berufen.

März 2008
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Quelle: Barbara Newman, Frauenlob’s Song of Songs. A Medieval German Poet and His Masterpiece, Penn State University Press, 2007

Lai, Leich [poet. Formprinzip]

Sonntag, 27. Januar 2008

Gerade bereite ich mich auf eine Arbeit zu altfranzösischen Lais und eine mündliche Prüfung zu mittelhochdeutschen Leichen vor und habe deshalb den Kopf voller Ideen zu dieser unstrophischen, lyrischen Gattung. Aber jeder, dem ich davon erzähle, fragt erst einmal: „Leich, hä, was’n das?“ Dieser allgemeinen Unwissenheit soll hiermit Abhilfe herbeieilen.

1. allgemeine Einführung
1.1 Definition

„Die Bezeichnung lai/leich ist im Mittelalter ein Sammelbecken für monodische Werke in den Volkssprachen, die sich der Gleichstrophigkeit entziehen; Kontrapart bildet das Liedprinzip“, heißt es im MGG2 Artikel von Christoph März. Diese kurze Definition faßt die grundlegenden Prinzipien des poetischen Phänomens, das hier zur Disposition steht, ganz treffend zusammen, wie ich finde. Es gibt aber noch weitere Phänomene, die mit dem Begriff in Verbindung gebracht werden.

1.2 Lai-Arten

Dazu gehören zunächst die um 1160 von Marie de France verfaßten, märchenhaften Erzählungen in achsilbigen Reimpaarversen. Zu diesen ist keine Musik überliefert, Hinweise im Text und ein leeres Notensystem in einer der Quellen verweisen aber auf die Existenz von dazugehöriger Musik. Da Marie selbst sagt, sie hätte bretonische Vorlagen niedergeschrieben, wird diese Art des Lais auch lai breton genannt. Eine andere Bezeichnung ist lai narrativ. Ebenfalls in Richtung Bretagne und König Arthus weisen die strophischen Lais, die in diversen Romanen, allen voran dem Tristan en prose, als kurze Liedeinschübe den Helden der Geschichte in den Mund gelegt werden. Diese Lais sind metrisch und melodisch sehr einfach gebaut und man nennt sie lai arthurien. Die aufgrund ihrer Überlieferungslage für die Wissenschaft interessantesten Lais sind aber die lais lyriques, die im deutschsprachigen Raum auch leiche genannt werden. Sie nehmen als verhältnismäßig lange und komplexe lyrische Gattung schon im Repertoire der Troubadours, Trouvères und Minnesännger eine Sonderstellung ein und gelten wohl besonders im 13. Jahrhundert als Königsdisziplin der Lieddichtung.

Es gibt weitere Phänomene, die in dieser oder jener Quelle mit dem Begriff bedacht werden, die wichtigstens und häufigsten sind jedoch die drei oben genannten, allen voran das lyrische Lai.

1.3 Etymologie und Terminologie

Es gibt diverse Thesen zur Etymologie des Begriffs lai/leich, zum Beispiel von Ferdinand Wolf, Richard Baum oder Hermann Apfelböck, die den Begriff aus dem keltischen, germanischen, bretonischen oder lateinischen herleiten. Angeführt werden dabei das altirische loîd/laîd (Lied, 9.Jh.), das gotische laikan (springen, tanzen, bewegen), das althochdeutsche leih (Gesang, Melodie), das angelsächsische laic, lac (Gabe) und das mittellateinische laicus/laice. Obwohl beides nicht denselben Weg gegangen sein muß, vermischen einige dieser Thesen die Wort- und die Sachgeschichte miteinander. Weder über das eine, noch über das andere gibt es aber bisher einen wissenschaftlichen Konsens.

Denn als Gattungsbegriff taucht lai zuerst um 1140 in den Chansonniers der provenzalischen Troubadours auf. Darin tragen einige Stücke Titel wie „Lai Markiol“, „Lai non par“, etc. Im Norden Frankreichs findet sich der Begriff zuerst 1155 in Waces „Roman de Brut“. Marie de France rückt mit ihren 12 narrativen Lais den Begriff erstmals in bretonischen Kontext, in dem er in weiteren epischen Werken ab 1200 und 1210 auch in provenzalischen und mittelhochdeutschen Quellen zu finden ist. In diversen althochdeutschen Glossen findet sich der Begriff bereits ab dem 10. Jahrhundert im musikalischen Kontext, z.B. bei Notker („lied unde leicha“). Im deutschen Sprachraum lassen sich die frühesten Leiche um 1175 datieren.

1.4 Probleme bei der Definition

Die Definition des Begriffs ist in vielerlei Hinsicht problematisch. Im Mittelalter werden unterschiedliche Phänomene lai genannt, die wiederum aber auch diverse andere Namen tragen können. Die Thesen zur Etymologie bringen nicht wirklich weiter und liefern allenfalls Spekulationen über das Ding an sich, das nicht zuletzt auch deshalb schwer zu fassen ist, weil es das Prinzip einer individuellen Formenphysiognomie verfolgt und darob ganz unterschiedliche Erscheinungen ausgebildet hat. Auch die Annäherung über ähnliche Formen, wie Sequenz, Planctus, Conductus, Descort, u.a. ist schwierig, weil diese ebenfalls nicht klar umrissen sind.

2. zeitlich-regionale Entwicklung
2.1 Lais als Volkspoesie

Bereits 1841 entwickelt Ferdinand Wolf die These, das Lai sei seinem Wesen nach eine Gattung der Volkspoesie und entwickle sich erst später zu einer höfischen Kunstform. Obwohl diese Behauptung aufgrund fraglicher Prämissen relativiert werden muß, stützt sie sich doch auf einige interessante Beobachtungen. Die (provenzalischen) Lais, welche heute als zur ältesten Schicht gehörig ausgemacht werden können, sind allesamt anonym überliefert. Sie weisen größtmögliche Formenvielfalt auf, sind weniger lang, dafür repetitiver und metrisch, wie melodisch einfacher gebaut als ihre mit Namen überlieferten provenzalischen und altfranzösischen Nachfolger. Erst im Verlaufe der Zeit entwickelt sich eine Tendenz zur Musterbildung heraus, bis das Lais im 14. Jahrhundert bei Guillaume de Machaut seine endgültige, normative Form erhält.

In eine ähnliche Richtung weist Bruno Stäblein mit seiner These zum descort. Der Begriff taucht im Provenzalischen irgendwann als Selbstbezeichnung in Stücken auf, die nach formalen und inhaltlichen Kriterien durchaus Lais sind und auch im selben Kontext überliefert werden. Stäblein behauptet, dies geschähe zur Abgrenzung der Troubadours-Kunst vom volkspoetischen Lais. Im altfranzösischen Sprachraum werden beide Begriffe aber synonym verwandt. Einziges distinktes Merkmal ist, dass Descorts inhaltlich ausschließlich um die „amour courtois“ kreisen (während Lais auch religiöse Topoi verfolgen) und in keinem Fall anonym überliefert sind.

2.2 Lais/Leiche vor 1300

Einen Konsens über die Entstehungsdaten einzelner Lais vor 1300 gibt es nicht, da diese größtenteils alle in denselben Quellen überliefert sind und man allein aufgrund kompositorischer Unterschiede keine handfesten Aussagen machen kann. Den Versuch einer Chronologie unternimmt David Fallows in seinem New Grove Artikel zum Lai, wobei er verschiedene Thesen der Lai-Forschung zusammenträgt. Es sind mehr altfranzösische Lais vor 1300 überliefert als provenzalische, was aufgrund der Quellenlage nicht verwundert. Es läßt sich feststellen, dass weniger Lais vor 1200 überliefert sind, die meisten aus der Zeit vor 1300 stammen und nach 1300 nur noch wenige komponiert werden.

2.3 Lais im Fauvel und bei Machaut

Zu diesen späten Beispielen gehören die vier französischen Lais im Roman de Fauvel, sowie die 19 Lais von Guillaume de Machaut. Im Register des Roman sind unter der Kategorie „proses et lays“ 27 Titel aufgeführt, davon drei französische und 24 lateinische Stücke. Aber das Register ist nicht nur an dieser Stellle fehlerhaft und so finden sich insgesamt 31 Stücke, die in diese Kategorie passen, von denen vier französische Lais sind; eines davon bezeichnet sich selbst als descort. Die restlichen Stücke sind lateinische Conductus oder Sequenzen („proses“), die dem Lai-Prinzip folgen, eines davon ist ein Kontrafakt des provenzalischen Lai Markiol. Die vier Lais gehören zum Modernsten, was der Roman musikalisch zu bieten hat und verweisen musikalisch bereits auf den Stil der Ars Nova, weshalb Leo Schrade Philippe de Vitry als Verfasser annimmt. Er glaubt, dass mindestens 3 der Stücke auch Guillaume de Machaut bekannt gewesen sein müssten, da sich direkte Einflüsse auf seine Lais nachweisen lassen. Während die Fauvel-Lais formal relativ flexibel bleiben, erhält die Gattung bei Machaut normativen Charakter und es kommt zur Ausbildung einer form fixe.

2.4 Kontinuität

Obwohl der Machaut-Schüler Eustache Deschamps in seiner Art de dictier (1392) beahuptet, Lais seien durchaus üblich, erscheint die Gattung im Roman de Fauvel und bei Machaut seltsam isoliert. Es ist fraglich, ob dies aufgrund einer schlechten Überlieferungslage zustande kommt oder weil das Lais einfach nicht zum üblichen Liedrepertoire der Zeit gehörte. Von keinem Zeitgenossen Machauts sind monodische Werke überliefert, allerdings ist auch kein Zeitgenosse so umfangreich überliefert wie Machaut. Die Melodien aus dem französischen Chansonrepertoire datieren nicht nach 1250 und so kommt es bis 1317, dem vermuteten Entstehungsjahr des musikalisch interpolierten Roman de Fauvel, zu einer Überlieferungslücke. Diese kann aber geschlossen werden, wenn man auf den deutschen Sprachraum ausweicht. Hier stammen zeitlich und stilistisch zwischenzuordnende Leiche von Hermann Damen und Heinrich von Meißen (Frauenlob). Aus der Zeit nach Machaut sind Lais nur noch aus dem Dichterzirkel um Eustache Deschamps, Christine de Pizan und Froissart überliefert. Diese sind allerdings nicht mehr musikalisch konzipiert, sondern rein literarisch. Somit steht Machaut mit seinen Lais in gewisser Hinsicht am Ende der Gattungsgeschichte.

3. poetische Form
3.1 allgemeine Prinzipien

Es gibt fast kein Lai, das dem anderen gleicht, jedes besticht durch individuelle Gestaltung und erschafft seine Regeln quasi aus sich selbst heraus. Das Gattungsprinzip, das sie alle miteinander verbindet ist die individuelle Formenphysiognomie, die in einem Verzicht auf Strophigkeit und sonstig regelhaft gesetzte Wiederkehr ihren Ausdruck findet. Jeder Vers ist unterschiedlich lang und verwendet andere Reimworte, kleinere Motive und Phrasen werden aber stetig wiederholt und variiert, bevor neues Material eingebunden wird, was zu einer oft komplexen, metrischen Binnenstruktur führt. Dies ist das zweite grundlegende Prinzip, welches in der Forschung mit „fortschreitende Repetition“ beschrieben wird. (Auch wenn es keine Strophen in dem Sinne gibt, handelt es sich formal um alles andere als „Prosa“. Größere Formabschnitte werden Versikel genannt.) Außerdem kommt es oft zur Verschleierung von Zäsuren und Kadenzen und zu Enjambements über die Versikelgrenzen hinaus. Die Enddifferenzierung in ouvert- und clos-Kadenzen, die Ausbildung paariger Komplexe (Doppelversikel), die Wiederaufnahme des Anfangs am Ende und die 12-„Strophigkeit“ werden im Verlaufe der Zeit formbestimmend. In den Melodien der Lais dominiert der G-Modus, während in den mhd. Leichen oft ein Terzengebäude über D oder F anzutreffen ist.

3.2 Verwandte Formen

Wegen dem doch etwas befremdlichen Prinzip der Unstrophigkeit ist das Lai immer wieder mit anderen Formen Verglichen und in generische Verbindung gebracht worden. Das ist zunächst der schon descort, von dem eigentlich ausgegangen wird, dass er unter das Lai zu subsummieren ist. Eine Identität wird auch zwischen dem frz. Lai und dem dt. Leich angenommen, obwohl der Begriff im dt. (vor 1210 bei Gottfried v. Straßbourg, der es aus dem frz. entnimmt) nie in Verbindung mit epischen und nur selten mit strophischen Werken steht.

Auch wurde immer wieder die Nähe zu lateinischen, unstrophischen Gattungen wie der Sequenz, dem Plactus und dem Condutus hingewiesen und in der Tat gibt es unter den frühen Lais einige Kontrafakturen, bzw. melodische Abhängigkeiten zu lateinischen Sequenzen und Plactus. Wobei hier nicht eindeutig ausgemacht werden kann, ob die volkssprachigen oder die lateinischen Stücke Vorlage waren. Bei Fauvel sind die lateinischen Strücke der Kategorie „proses et lays“ größtenteils Condutus. Allen gemeinsam ist der Verzicht auf regelhafte Wiederkehr metrisch-musikalischer Strukturen.

3.3 Beispiele

Ein durchaus kunstvolles Beispiel sind das erste und zweite Versikel des Lai des Hellequins „En ce douce temps d’esté“ aus dem Roman de Fauvel:

En ce douce temps d’esté, tout droit ou mois de may,
qu’amours met par pensé maint cuer en grant esmay,
firent les herlequines ce descort dous et gay.
Je, la Blanche Princesse, de cuer les em priai
et vous qu’em le faisant deîssent leur penser,
se c’est sens ou folie de faire tel essay
com de mettre son cuer en par amours amer.

Je, qui suis leur mestresse, avant le commencai
et en le faisant non de descort li donnay,
Quar selon la matere ce non si li est vrai.
Puis leur dis: „Mes pucelles, moult tres grant desir ai
qu’en fesant ce descort puissons tant bien parler
qu’on n’i truist que reprendre, que pour verité sai
que pluseurs le voudront et oir et chanter.“

I.) (Longa- Brevis und Semibrevis stehen im Verhältnis 1:3:9)
A 6 | 6a
B 6 | 6a
A 7_ | 6a
B 7_ | 6a
C 6 | 6b
B‘ 7_ | 6a (Kadenz variiert)
C‘ 6 | 6b (gesamter clos variiert)
(das ganze wird 1x wiederholt)

II.) (Loga-Brevis und Semibrevis stehen im Verhältnis 1:2:6)
A 6 | 6c
B 6 | 6c
C 7_ | 6d
C‘ 6 | 6d
A 6 | 6e
B 6 | 6e

Interessant ist an diesem Stück, dass die musikalische (Großbuchstaben) und die metrische Disposition nicht unmittelbar kongruent sind, was ungewöhnlich für die mittelalterliche Lieddichtung, nicht aber für das Lais selbst ist. Außerdem interessant ist der Umstand, dass hier mittels wörtlicher Rede eine Geschichte erzählt wird. Dies und auch die melodische Prosaik, sowie Länge des Lais lassen Zweifel an der reinen Lyrizität der Gattung aufkommen, die zwar von verschiedener Seite geäußert, aber nie eingehender untersucht wurden.

3.4 Das Lai als form fixe

Geschichtlich betrachtet ist das Lais alles andere als eine form fixe, es ist heterogen und sehr veränderlich. Allerdings strebt es mit zunehmender Entwicklung hin zu einer formalen Stabilisierung, die bei Guillaume de Machaut ihren Höhepunkt erreicht. Nur zwei seiner 19 Lais weisen eine andere Struktur, als die 1392 von seinem Guillaumes Schüler Eustache Deschamps beschriebene, auf. Die Norm lautet: 12 Teile von denen der erste und letzte in Form und Reim identisch sind, ohne dass sich Reimworte wiederholen, während die anderen 10 dahingehend individuell sind, doch jeder Teil muß vier Viertel haben. Bei Machaut wird mit dem letzten Versikel nicht nur die Form und der Reim, sondern auch die Musik des ersten Versikels wiederholt, diese erklingt jedoch für gewöhnlich eine Quarte oder Quinte höher oder tiefer.

Quellen

  • Christoph März: „Lai, Leich“, in: MGG2
  • David Fallows: „Lai“, in: New Grove2
  • Hans Tischler: „Die Lais im Roman de Fauvel“, in: Die Musikforschung, XXXIV/2 (1981), pp. 165, 169-171 (GfM)
  • Leo Schrade: „Guillaume de Machaut and the ‚Roman de Fauvel‘, in: Miscelánea en Homenaje a Monsenor Higinio Anglès, Barcelona: 1958-1961, vol.2, pp. 846-849

Einige Passagen dieses Artikels sind wortwörtlich in den Wikipedia-Artikel zum Lai (Fassung vom 13.09.08) übernommen worden, also nicht von mir geklaut, sondern von mir beigestiftet.

Lisa hat keine Geheimnisse mehr

Mittwoch, 16. Januar 2008

Seit zwei Jahren steht nun fest, wer die geheimnisvolle Dame auf dem unsignierten Portrait Leonardo Da Vincis ist und warum sie so ramdösig vor sich hin lächelt. Die Florentinerin Lisa Gherardini war Mutter von fünf Kindern und Frau des Florentiner Kaufmanns Francesco Giocondo. Neue Erkenntnisse aus Kanada und Heidelberg halfen bei der Identifikation und Datierung.

Wenn Mediaevisten neue Bücher entdecken, dann läuft das selten so ab, dass irgendwo ein völlig neuer Codex ausgegraben wird, wo es niemand vermutet. Viel mehr liest endlich mal jemand das Buch, das schon seit Jahren im Kellerarchiv der Bibliothek X/Y von Regal A nach Regal B getragen wird und stellt dann fest, dass da total spannende Dinge drin stehen. So scheint es auch mit diesem Exemplar der Unibibliothek Heidelberg abgelaufen zu sein, in dem ein Archivar vor zwei Jahren eine kleine Marginalie entdeckte. Buch und Notiz stammen vom Florentiner Agostino Vespuccui, einem Freund Leonardo DaVincis, und darin heißt es, letzerer würde gerade an einem Bildnis der Lisa Gherardini, der Frau des Florentiner Kaufmanns Franceso del Giocondo, arbeiten.


Lisa Gioconda nach der Geburt ihres 2. Kindes

Schon im 16. Jahrhundert hatte der erste Biograph DaVincis behauptet, ein Bildnis der Dame sei gemalt worden, woraufhin das unsignierte Portrait im Volksmund den Namen „Mona Lisa“, bzw. „La Gioconda“ erhalten hatte. Aber geglaubt hatten das die Kunsthistoriker irgendwie nicht, weshalb es lange Unklarheiten über die Identität der schönen Frau gab. Diese wird durch die nahestehende Randnotiz des Freundes nun offenbar bestätigt. (SpOn berichtet)


Marginalie in der heidelberger Inkunabel

Um das Portrait der Lisa Gherardini, an dem Leonardo mehr als vier Jahre gearbeitet haben soll, rankten sich ja immer zahlreiche Gerüchte, in denen es nicht nur um die Identität, sondern vor allem auch um das mysteriöse Lächeln der Dame ging. Ebenfalls vor zwei Jahren lüfteten kanadische Wissenschaftler, die mithilfe von Infrarot-Kameras die Farbschichten des Bildes analysierten, auch dieses Geheimnis. Madonna Lisa ist gerade mit ihrem zweiten Kind Mutter geworden, denn über ihrem Bauch liegt ein transparenter Schleier, der im frühen 16. Jahrhundert typisch für Frauen ist, die schwanger sind oder gerade erst entbunden haben. Mit bloßem Auge war dieser nie zu erkennen gewesen. Mit dem Wissen um die Identität und die Schwangerschaft konnten die Forscher das Portrait dann auf 1503 datieren. (Focus berichtete)

Quelle der Bilder: wikipedia/mona_lisa

Alte Musik online

Dienstag, 06. November 2007

Es ist ja immer ein bisschen schwierig mit der alten Musik. Wenn Konzerte unter diesem Titel angesagt sind, dann spielt das meistens auf die historische Aufführungspraxis und nicht etwa das Alter der aufgeführten Komponisten an, so dass man dann doch wieder nur Händel und Haydn zu hören bekommt. Dass ich an der Uni in diesem Semester einen Kurs zur Musiktheorie der klassischen Antike mache, ist dann doch eher die absolute Ausnahme, denn für gewöhnlich fängt Musikgeschichte auch an unserem Insitut erst mit Bach an. Da muß man sich dann als Freund der Mittelaltermusik weitestgehend autark orientieren, was zum Glück zunehmend einfacher wird. Denn inzwischen finden sich auch im Internet einige Anlaufstellen für alte Musik. Nachdem ja in dem deutschsprachigen Mittelalterportal, Mediaevum, die Musikwissenschft eher stiefmütterlich vertreten ist, ist es erfreulich, dass man sich trotzdem langsam seine Adressen zusammensammelt.

Da ist z.B. das niederländische Webradio Conzertzender das live-streams anbietet und auch eine Sparte „oude muziek“ hat. (Einfach auf das türkis-farbene Feld klicken und reinhören!) Außerdem habe ich mich gestern auf der Seite des Digital Image Archive of Medieval Music angemeldet, bei dem auch auch als Nichtakademiker nach Anmeldung freien Zugang zu eingescannten Faksimiles mittelalterlicher Musikmanuskripte erhält. Die Seite wird von Margaret Bent initiiert, ist also in guten wissenschaftlichen Händen. Regelmäßig findet man mich natürlich in der Medieval Music Database der La Trobe University. Wenn ich mich über ein bestimmtes Manuskript, einen Komponisten oder ein spezielles Stück informieren möchte, gucke ich zuerst dort nach Editionen, Literatur, Texten, etc. Leider liegt das Projekt seit Februar 2004 brach und wird nicht mehr weiter upgedated, was wirklich äußerst schade ist. Trotzdem ist das Ganze noch immer eine empfehlenswerte Quelle. Auf der Seite der Medieval Music & Arts Foundation finden sich hingegen spannende Fachtexte, die auch als Einstieg gut geeignet sind. Weiter in die Materie dringende Aufsätze kann man dann bei Jstor – The Scholary Journal Archive finden. Dort kann man die gefundenen Artikel dann auch herunterladen und lesen, vorausgesetzt man surft über ein Netzwerk, das dort registriert ist, z.B. das der FU.

Wer mehr Links auf interessante Seiten zur Mittelaltermusik, zur Paläographie, Kodikologie oder sonstiger mediaevistischer Studien für mich hat, der scheue sich nicht, sie hier zu posten. Ich bin ein dankbarer Abnehmer solcher Infos.

Scheibenwelt – Aberglaube Mittelalter

Freitag, 19. Oktober 2007

Wenn ich von meinen mediävistischen Studien berichte, gibt es immer wieder Leute, die behaupten, im Mittelalter wären die Menschen abergläubisch gewesen und hätten geglaubt, die Erde sei eine Scheibe. Während ersteres, wie ich inzwischen beweisen kann, nicht nur auf die Menschen im Mittelalter zutrifft, ist letzteres zeitgenössischer Aberglaube, der mit der historischen Realität nichts zu tun hat.

Bereits im ersten Semester meines Studiums kam mir ein Text aus dem 14. Jahrhundert unter, das Naturkundebuch Konrads von Megenburg, in dem sich inmitten einer Schilderung der biblischen Sintflutgeschichte die Federzeichnung eines Schiffes befand, auf dem zwei Augen einen Punkt an Land zu fixieren versuchen. Während das Auge hoch oben am Mast den Punkt ungehindert sehen kann, wird deutlich, dass das Auge auf Relinghöhe durch das Schiff und das Meer hindurchgucken müßte, um es dem Auge im Mast gleichzutun. Die Skizze, die ich hier einstellen werde, sobald ich den Kampf mit meinem Scanner gewonnen habe, zeigt mir deutlich, dass also spätestens im 14. Jahrhundert ein Verständnis für die Kugelform der Erde vorhanden war. Aber auch sonst ist mir während meines gesamten Studiums kein einziger mittelalterlicher Text untergekommen, in dem irgendwer behauptet hätte, die Erde sei eine Scheibe, im Gegenteil. Ich habe mich deshalb immer wieder gefragt, wie meine Zeitgenossen nur auf einen solchen Unsinn kommen können und meine Aufgabe als Mediävist nicht zuletzt auch in der Ausräumung falscher Annahmen gesehen.

Vor zwei Tagen bin ich dann zufällig über einen schon etwas älteren SpOn-Artikel gestolpert, der sich mit der Problematik der mittelalterlichen Scheibenwelt mal etwas näher befaßt und siehe da, Romanist Reinhard Krügers hat sich mit eben derselben quälenden Frage durch ca. 1800 Jahre Wissenschaftsgeschichte gewühlt. Dabei hat er herausgefunden, dass es in der gesamten Zeit tatsächlich drei mittelalterlich (bzw. spätantike) Gelehrte gab, die glaubten, die Erde sei eine Scheibe, während alle übrigen sie für Dummschwätzer und die Erde für eine Kugel hielten. Die Rede ist von Kosmas Indikopleustes, Laktantius und Severianus von Gabala, die aber weder gelesen, noch beachtet wurden, denn seit dem antiken Philisophen Parmenides galt die Kugelform der Erde als bewiesen und wurde auch nicht angezweifelt. Also schlummerten unsere drei Gelehrten ihren Dornröschenschlaf, bis einer von ihnen in der Renaissance um 1540 von einem gewissen Nikolaus Kopernikus erweckt wurde.

Der Astronom hatte nämlich eine bis dahin unerhörte Theorie, deren Neuartigkeit nicht in der Annahme einer sphärischen Erde bestand, sondern in der Annahme eines Heliozentrums, um das die Planeten in Kreisbahnen ziehen. Die Kapitel über die Form der Erde hatte Kopernikus aus dem Standardwerk des mittelalterlichen Astronomieunterrichts, der Sphaera mundi des Johannes Sacrobosco, abgeschrieben, ohne freilich seine Quelle zu benennen. Da er aber Angst vor dem Spott eben jener Gelehrten hatte, die die Erde im Mittelpunkt glaubten, zitierte er auch den polemischen Laktantius, diesmal allerdings namentlich. Er argumentierte gegen seine Kritiker, dass wer sein heliozentrisches Weltbild bezweifle, ebenso dumm sei wie jener Laktantius. Und bereits 20 Jahre nach Erscheinen der Revolutionibus Orbium Coelestium des Kopernikus behauptete der Mediziner Johannes Dryander, die vormodernen Alten hätten geglaubt, die Erde sei eine Scheibe. In der Zeit der Aufklärung galt diese Lüge dann schon als Tatsache und wird bis heute von vielen Zeitgenossen als solche proklamiert. So viel also zum Aberglauben im Mittelalter: Eigentlich fehlt jetzt nur noch jemand, der kommt und behauptet, im Mittelalter hätte man Hexen verfolgt und verbrannt