Archiv für November 2007

Werkeinführung: Johann Sebastian Bach ~ Weihnachtsoratorium

Freitag, 30. November 2007

Am 23.12.2007 führt mein Chor, die Berliner Singakademie, gemeinsam mit seinem Kinderchor, dem Kammerorchester Carl Philipp Emanuel Bach und vier wunderbaren Solisten (Geller, Markert, Petzold, Gottschick) im Großen Saal der Berliner Philharmonie das Weihnachtsoratorium (I-III, VI) von Johann Sebastian Bach auf. Wer das Konzert besuchen möchte oder noch darüber nachdenkt, kann sich hier als Apppetithäppchen meine kleine Werkeinführung durchlesen. Und wer noch ein Weihnachtsgeschenk für seine Liebsten sucht, könnte mit dem Besuch eines so traditionellen Konzertes am Tag vor Heilig Abend vielleicht genau ins Schwarze treffen. Die Karten kann man bequem online bestellen (und sollte das tun, solange noch gute Plätze vorhanden sind).


Berliner Singakademie vor dem Konzerthaus Berlin
am Gendarmenmarkt

Werkeinführung

Kein anderes Werk gehört so sehr zu Weihnachten, wie das Weihnachtsoratorium von Johann Sebastian Bach und kein zweites Werk Bachs erlangte solche Popularität wie dieses. “WO” nennen es Insider schlicht, und es ist eines von drei Bachschen Werken, denen der Komponist den Titel “Oratorium” zugedacht hat.

Dabei handelt es sich eigentlich um einen Kantaten-Zyklus, dessen sechs Teile an den damals drei Weihnachtsfeiertagen, dem Neujahrsfest, dem Sonntag nach Neujahr und dem Epiphaniasfest aufgeführt wurden. Durch seine Bildungsreise in den Norden ist Bach schon 1705 mit ähnlich groß angelegten musikalischen Formen in Berührung gekommen. Für die Weihnachtsfeierlichkeiten der Leipziger Hauptkirchen St. Nicolai und St. Thomae zur Jahreswende 1734/35 komponierte er nun selbst eine solche Großform.

Die sechs Teile sind in sich geschlossen, was nicht nur durch den Textzusammenhang, sondern auch durch die musikalische Anlage deutlich wird. Als Jubelton spannt D-Dur den tonartlichen Bogen über das gesamte Werk. Es eröffnet im ersten Teil, kulminiert im dritten und kehrt in Teil sechs schließlich zur Grundtonart zurück. Die übrigen Kantaten sind von verwandten Tonarten geprägt. Die Subdoninante G-Dur ist charkateristisch für den pastoralen Inhalt des zweiten Teils. Im vierten erzeugt die Parallele der Mollvariante, F-Dur, eine gefällige Ruhe und A-Dur, die Dominante ist Ausdruck von Zufriedenheit im fünften Teil.

Insgesamt versprühen die sechs Kantaten mit ihren Dur-Tonarten eine anhaltende Jubelstimmung, ein Umstand, der möglicherweise auch dem weltlichen Ursprung einzelner, beinhalteter Stücke geschuldet ist. Bach komponierte nämlich nicht das gesamte Material für sein Weihnachtsoratorium neu. Ein Großteil der Arien und nicht-choralgebundenen Chöre entstammt zwei Huldigungskantaten für das sächsische Herrscherhaus, die schon 1733 entstanden sind und ihrerseits wiederum auf früheres Material zurückgreifen. Bach übernimmt die Musik, arbeitet sie leicht um und unterlegt sie mit einem neuen Text. Aus “Tönet ihr Pauken, erschallet Trompeten” (BWV 214) wird “Jauchzet, frohlocket”, der imposante Eingangschor des Oratoriums, bei dem noch immer zuerst die Pauken, dann die Trompeten einsetzen.

Parodie nennt man dieses Verfahren und es entsprach der gängigen Praxis des Barockzeitalters. Der romantischen Vorstellung von der Einmaligkeit des einen vollkommenen Originals entsprach es jedoch nicht und noch bis ins 20. Jahrhundert hinein war das Weihnachtsoratorium deshalb als imperfekt stigmatisiert. Generationen von Musikwissenschaftlern verwandten ihre Fähigkeiten darauf, Rechtfertigungen für seine Beliebtheit zu formulieren. Dabei geht es in der barocken Affektenlehre nicht um eine musikalische Ausformung sprachlicher Begrifflichkeit, sondern um die Vermittlung überbegrifflicher Emotionen, eben Affekte und dahingehend kann die Freude beim Anblick des Jesus-Kindleins durchaus der Freude beim Lobpreis am Herrschersohn entsprechen. Dem barocken Anspruch eines aufeinander abgestimmten Wort-Ton-Verhältnisses wird das Weihnachtsoratorium also allemal gerecht. Es als Recycling-Produkt abzuwerten oder gar zu verschmähen wäre verkehrt, zumal es durchaus innovative Neukompositionen bietet.

Sämtliche Rezitative und Choräle sind exklusiv für das Weihnachtsoratorium geschaffen worden, ebenso die Sinfonia zu Beginn des zweiten Teils mit ihren Geigen, Flöten und Schalmaien. Neu komponiert wurde auch die Sopran-Arie “Schließe, mein Herze” als Zentrum der dritten Kantate und des gesamten Zyklus, obwohl Bach zunächst auch dort über eine Parodie nachdachte. Einen fast fertigen Satz in seiner Lieblingstonart h-Moll verwarf er, bevor die endgültige Fassung entstand. Einzigartig in Bachs Gesamtwerk bleibt das Duett aus Bass-Rezitativ und der Choralweise “Jesu, du mein liebstes Leben” im Sopran, das den Rahmen für die “Echo-Arie”, das geistige Zentrum der F-Dur-Kantate bildet.

Jede der sechs Kantaten hat ihr eigenes musikalisches Zentrum und folgt einer eigenen Binnenstruktur, was die Aufführung an verschiedenen Feiertagen ermöglichte. Betont wird dabei oft die pietistische Anlage der einzelnen Teile, die mit der Folge Evangelist, frei gedichtetes Rezitativ, Arie und Choral der Vorstellung der Bibellektüre von Lesung, Betrachtung, Gebet und Amen der Gemeinde entspräche. In seiner Reinform trifft dies aber nur auf die erste Kantate wirklich zu. Das Pietistische liegt vielmehr in den theatralisch, bildreichen Choralstrophen, die Bach vom Textdichter Paul Gerhardt übernahm.

Nur einmal wurde das Weihnachtsoratorium zu Bachs Lebzeiten aufgeführt. Erst 1857 brachte die Singe-Academie zu Berlin, die auch im Besitz des Autographen war, das Werk wieder auf die Bühne. So konnte es schließlich seinen Siegeszug antreten. Heute wird das WO selten auf verschiedene Feiertage verteilt aufgeführt, eher finden sich Teilaufführungen der Kantaten I-III und IV-VI. Die Berliner Singakademie wird am 23.12.2007 in der Philharmonie Berlin die Kantaten 1-3 und 6 aufführen. Unterstützt wird sie dabei vom Kammerorchester Carl Philipp Emanuel Bach und ihrem hauseigenen Kinder- und Jugendchor, sowie den Solisten Brigitte Geller (Sopran), Anette Markert (Alt), Martin Petzold (Tenor) und Jörg Gottschick (Bass). Die Leitung übernimmt Achim Zimmermann. Sichern Sie sich rechtzeitig Ihre Karten und lassen Sie Sich und ihre Liebsten mit Bachschen Jubelchören, Arien und Rezitativen gebührend von uns auf die Weihnacht einstimmten.

Du bist zu paranoid!

Dienstag, 27. November 2007

Das meinten jedenfalls gestern zwei Freunde zu mir, als ich ihnen erzählte, angesichts des Polizei-, Präventions- und Überwachungsstaats, der Deutschland gerade zu werden droht, die Möglichkeit der Auswanderung ernsthaft in Betracht zu ziehen. Ich erzählte, dass ich die Wohnungsdurchsuchungen bei G8-Gegnern und die Andrej H. Geschichte äußerst bedenklich fände und mir schon eine Checkliste für die nächste Wohnungsdurchsuchung an die Eingangstür gehängt hätte. Sie meinten, ich sähe das zu pessimistisch, es gäbe schon einen Grund für die Durchsuchungen und es wäre doch besser, einem Verdacht nachzugehen…

Es gab Zeiten, in denen ich diesen Argumenten zugestimmt hätte, in letzter Zeit lese ich aber immer öfter Berichte wie den über einen Willkürlichen Polizeieinsatz in Bayern. Ein Familienvater hatte sich im Wartezimmer der Arztpraxis darüber aufgeregt, dass der Papstbesuch im letzten Jahr 40 Millionen Euro gekostet hätte. Es ist schlimm genug, dass unsere Steuergelder, 40 Millionen Euro (!), für den Besuch eines katholischen Obergurus draufgehen, während für Kitas und Lehrer angeblich das Geld fehlt. Was dem bayrischen Familienvater für seine frevlerische Äußerung aber blühte, das schlägt dem Faß wirklich den Boden aus.

Unbekannte hatten im Vorfeld des Papstbesuches dessen ehemaliges Wohnhaus mit Farbbeuteln beworfen. Der Familienvater rückte durch seine, wohlgemerkt im Wartezimmer geäußerte Meinung ins Visier der Ermittler. Diese rückten daraufhin mit einem Sondereinsatzkommando (!) an, führten den Mann ab und durchsuchten, bewaffnet mit Maschinenpistolen in Anwesenheit seiner Frau und Kinder, sein Haus – auch das Kinderzimmer. Dessen Bewohner wurden ohne Anwesenheit der Mutter von den SEK-Beamten befragt, auch ob sie einen Laptop hätten, wollten die sympathischen Freunde und Helfer mit den schwarzen Masken von den Knirpsen wissen. Die beiden rückten daraufhin ihren Spielzeug-Laptop heraus, auf dem die Beamten eine größere Ansammlung Kinderlieder sicherstellen konnte. (Zum Glück, wer weiß, was die Bengel noch alles Gefährliches mit denen angestellt hätten!) Den Vater mußten sie nach der erkennungsdienstlichen Behandlung leider wieder auf freien Fuß lassen, weil sie ihm nichts nachweisen konnten. Dazu ein Fernsehbericht auf youtube.

Es mag sein, dass ich paranoide Züge an den Tag lege, aber dies sind in letzter Zeit keine Einzelfälle. Ich erinnere an dieser Stelle an das frisch vermählte Pärchen, das während der Flitterwochen in seinem Ferienhaus von der Polizei überrascht wurde (Citronengras berichtete). Wie soll ich mich in einem Staat sicher fühlen, der seine Bürger terrorisiert?

Oscar Wilde

Sonntag, 25. November 2007

Der irische Dichter Oscar Fingal O’Flahertie Wills Wilde (1854-1900) ist heute vor allem für seine, die viktorianische Gesellschaft intelligent auf die Schippe nehmenden Komödien und für den von ihm gelebten, alles überragenden Ästhetizismus bekannt. In Oxford war er zunächst Professor für klassische Philologie und verfolgte dort bereits das Prinzip „L’art pour l’art“ (Kunst um der Kunst willen), das er später, als Erfolgsschriftsteller zum Zentrum seiner Lebensartistik machte, bevor ihn ein Prozess wegen angeblicher Verführung der Jugend gesellschaftlich ruinierte.

Als gezeichneter Mann ging Wilde nach seiner Entlassung aus dem Zuchthaus nach Paris, wo er sich unter Pseudonym bis zu seinem Lebensende aufhielt und auch beigesetzt wurde. Lesenswert sind neben den Komödien auch Wildes Kunstmärchen, sein einziger Roman „The Picture of Dorian Gray“ (Das Bildnis des Dorian Gray) und sein einziges Drama Salomé, das ursprünglich in französischer Sprache verfaßt und später von Richard Strauss zu einer Oper vertont wurde.

ΓΛΥΚΥΠΙΚΡΟΣ ΕΡΩΣ

Sweet, I blame you not, for mine the fault was, had I not been made of common clay
I had climbed the higher heights unclimbed yet, seen the fuller air, the larger day.

From the wildness of my wasted passion I had struck a better, clearer song,
Lit some lighter light of freer freedom, battled with some Hydra-headed wrong.

Had my lips been smitten into music by the kisses that but made them bleed,
You had walked with Bice and the angels on that verdant and enamelled mead.

I had trod the road which Dante treading saw the suns of seven circles shine,
Ay! perchance had seen the heavens opening, as they opened to the Florentine.

And the mighty nations would have crowned me, who am crownless now and without name,
And some orient dawn had found me kneeling on the threshold of the House of Fame.

I had sat within that marble circle where the oldest bard is as the young,
And the pipe is ever dropping honey, and the lyre’s strings are ever strung.

Keats had lifted up his hymeneal curls from out the poppy-seeded wine,
With ambrosial mouth had kissed my forehead, clasped the hand of noble love in mine.

And at springtide, when the apple-blossoms brush the burnished bosom of the dove,
Two young lovers lying in an orchard would have read the story of our love.

Would have read the legend of my passion, known the bitter secret of my heart,
Kissed as we have kissed, but never parted as we two are fated now to part.

For the crimson flower of our life is eaten by the cankerworm of truth,
And no hand can gather up the fallen withered petals of the rose of youth.

Yet I am not sorry that I loved you-ah! what else had I a boy to do,-
For the hungry teeth of time devour, and the silent-footed years pursue.

Rudderless, we drift athwart a tempest, and when once the storm of youth is past,
Without lyre, without lute or chorus, Death the silent pilot comes at last.

And within the grave there is no pleasure, for the blindworm battens on the root,
And Desire shudders into ashes, and the tree of Passion bears no fruit.

Ah! what else had I to do but love you, God’s own mother was less dear to me,
And less dear the Cytheraean rising like an argent lily from the sea.

I have made my choice, have lived my poems, and, though youth is gone in wasted days,
I have found the lover’s crown of myrtle better than the poet’s crown of bays.

Oscar Wilde (1854 – 1900)

Kurt Tucholsky

Sonntag, 25. November 2007

[audio:tucholsky1.mp3]
An das Publikum

O hochverehrtes Publikum,
sag mal, bist du wirklich so dumm,
wie uns das an allen Tagen
alle Unternehmer sagen?
Jeder Direktor mit dickem Popo
spricht: “Das Publikum will es so!”
Jeder Filmfritze sagt: “Was soll ich machen?
Das Publikum wünscht diese zuckrigen Sachen!”
Jeder Verleger zuckt die Achseln und spricht:
“Gute Bücher gehn eben nicht!”
Sag mal, verehrtes Publikum:
Bist du wirklich so dumm?

So dumm, daß in Zeitungen früh und spät
immer weniger zu lesen steht?
Aus lauter Furcht, du könntest verletzt sein;
aus lauter Angst, es soll niemand verhetzt sein;
aus lauter Besorgnis, Müller und Cohn
könnten mit Abbestellung drohn?
Aus lauter Bangigkeit, es käme am Ende
einer der zahllosen Reichsverbände
und protestierte und denunzierte
und demonstrierte und prozessierte…
Sag mal, verehrtes Publikum:
Bist du wirklich so dumm?

Ja, dann…
Es lastet auf dieser Zeit
der Fluch der Mittelmäßigkeit.
Hast du so einen schwachen Magen?
Kannst du keine Wahrheit vertragen?
Bist also nur ein Grießbreifresser –
Ja, dann…
Ja, dann verdienst du’s nicht besser!

Kurt Tucholsky (1890 – 1935)

Johann Wolfgang Goethe

Sonntag, 25. November 2007

Es gibt kaum jemanden in Deutschland, der nicht schon einmal mit Goethe, dem Koloss der deutschen Dichtung, in Berührung gekommen ist. Kaum jemand hat ihn komplett gelesen und das ist zum Glück auch gar nicht nötig. Denn innnerhalb seines umfangreichen Werks befinden sich logischerweise nicht nur Blüten. Trotzdem steht Goethe hier nicht, weil er zum Kanon gehört, sondern weil er, wie ich finde, aus gutem Grund zum Kanon gehört.

Der Besuch

Meine Liebste wollt ich heut beschleichen, aber ihre Türe war verschlossen. Hab ich doch den Schlüssel in der Tasche! Öffn ich leise die geliebte Türe!

Auf dem Saale fand ich nicht das Mädchen, fand das Mädchen nicht in ihrer Stube; endlich, da ich leis die Kammer öffne, find ich sie, gar zierlich eingeschlafen, angekleidet, auf dem Sofa liegen.

Bei der Arbeit war sie eingeschlafen: Das Gestrickte mit den Nadeln ruhte zwischen den gefaltnen zarten Händen; und ich setzte mich an ihre Seite, ging bei mir zu Rat, ob ich sie weckte.

Da betrachtet ich den schönen Frieden, der auf ihren Augenlidern ruhte; auf den Lippen war die stille Treue, auf den Wangen Lieblichkeit zu Hause; und die Unschuld eines guten Herzens regte sich im Busen hin und wieder. Jedes ihrer Glieder lag gefällig, aufgelöst vom süßen Götterbalsam.

Freudig saß ich da, und die Betrachtung hielte die Begierde, sie zu wecken, mit geheimen Banden fest und fester.

O du Liebe, dacht ich, kann der Schlummer, der Verräter jedes falschen Zuges, kann er dir nicht schaden, nichts entdecken, was des Freundes zarte Meinung störte?

Deine holden Augen sind geschlossen, die mich offen schon allein bezaubern; es bewegen deine süßen Lippen weder sich zur Rede noch zum Kusse; aufgelöst sind diese Zauberbande deiner Arme, die mich sonst umschlingen, und die Hand, die reizende Gefährtin süßer Schmeicheleien, unbeweglich.

Wär’s ein Irrtum, wie ich von dir denke, wär es Selbstbetrug, wie ich dich liebe, müßt ich’s jetzt entdecken, da sich Amor ohne Binde neben mich gestellet.

Lange saß ich so und freute herzlich ihres Wertes mich und meiner Liebe; schlafend hatte sie mir so gefallen, daß ich mich nicht traute, sie zu wecken.

Leise leg ich ihr zwei Pomeranzen und zwei Rosen auf das Tischchen nieder; sachte, sachte schleich ich meiner Wege. Öffnet sie die Augen, meine Gute, gleich erblickt sie diese bunte Gabe, staunt, wie immer bei verschloßnen Türen dieses freundliche Geschenk sich finde.

Seh ich diese Nacht den Engel wieder: O wie freut sie sich, vergilt mir doppelt dieses Opfer meiner zarten Liebe.

Johann Wolfgang Goethe (1749-1832)

weiblich, ledig, kinderlos…

Donnerstag, 22. November 2007

Die Ehe ist ein überholtes Modell. Es ist ungerecht, weil es alternative Familienkonzepte ausschließt und weil es im Sprachgebrauch Assoziationen hervorruft, die nicht mehr mit den realen Lebensverhältnissen übereinstimmen – zumindest nicht mit meinen, das merkte ich jüngst sehr deutlich. Denn für meinen zukünftigen Arbeitgeber mußte ich einen Fragebogen ausfüllen, in dem unter anderem auch mein Familienstand abgefragt wurde. Ledig, kinderlos, schrieb ich hin, weil das formaljuristisch korrekt ist. Dann dachte ich mir aber, dass der Arbeitgeber durch solche Wortwahl sicher eine falsche Idee bekommt. Arbeitgeber freuen sich ja, wenn sie familienlose, also flexible Arbeitnehmer haben, die sie auch mal spontan in die Welt hinausschicken können, ohne dass das jemanden stört. Das geht aber bei mir nicht und ich möchte auch nicht, dass mein Arbeitgeber auf solche Ideen kommt, denn in Wirklichkeit habe ich einen Mann und ein Kind. Das Kind habe ich nicht geboren, aber es lebt bei mir und meinem Mann, weil es von meinem Mann ist, mit dem ich aber nicht verheiratet bin. Niemand, der mich kennt, assoziiert mein Familienverhältnis mit ledig und kinderlos; es mangelt der Sprache schlicht an formaljuristischen Begriffen, die meine familiäre Situation adäquat beschreiben. Man muß sich davor hüten, das Denken an diesem sprachlichen Mangel auszurichten, deshalb schrieb ich in Klammern dahinter: unverheiratet, 1 Stiefkind.

Sowieso bin ich dafür, die Ehe als singulären, staatlich subventionierten Partnerschaftsvertrag abzuschaffen, so dass alle Formen des familiären Zusammenlebens gleichberechtigt nebeneinanderstehen, homosexuelle, polyamouröse, gepatchte, eben alle. Ich habe mal eine sehr schöne Definition von Familie gelesen, die aus dem Mund eines Kindes stammt, das in einer sogenannten Patchworkfamilie aufgewachsen ist: Familie ist überall dort, wo man an den Kühlschrank gehen kann, ohne fragen zu müssen.

Heinrich Heine

Dienstag, 20. November 2007

[audio:heine1.mp3]
Ein Fräulein stand am Meere

Ein Fräulein stand am Meere
Und seufzte lang und bang,
Es rührte sie so sehre
Der Sonnenuntergang.
Mein Fräulein! sein Sie munter,
Das ist ein altes Stück;
Hier vorne geht sie unter
Und kehrt von hinten zurück.

Heinrich Heine (1797 – 1856)

Précis: Der sogenannte Zirkel des Verstehens

Montag, 19. November 2007

Précis sind kurze Zusammenfassungen der wichtigsten Thesen und Argumente wissenschaftlicher Fachaufsätze. Die meisten schrieb ich im Grundstudium zu sprachtheoretischen Texten.

Diesmal bespreche ich Wolfgang Stegmüllers „Der sogenannte Zirkel des Verstehens“, darin er den Weg aus dem hermeneutischen Dilemma erklärt, dass ich zunächst die Worte eines Textes verstehen muß, um ihn zu übersetzen, deren Bedeutung aber nicht beurteilen kann, ohne zu wissen, worum es in dem Text geht, was ich nicht wissen kann, bevor ich ihn übersetzt habe.

Der sogenannte Zirkel des Verstehens ~ Wolfgang Stegmüller

Um die allgemeine Behauptung, dem Phänomen des hermeneutischen Zirkels wohne der wesentliche Unterschied zwischen Geistes- und Naturwissenschaften inne, zu prüfen, versucht Wolfgang Stegemüller in seinem Aufsatz zwei Sinnfragen zu beantworten: 1.) Was ist mit dem Ausdruck hermeneutischer Zirkel gemeint? 2.) Was versteht man unter dessen Unaufhebbarkeit?

In die Liste seiner Deutungen nimmt Stegemüller bewußt nur diejenigen auf, die auf bestimmte ‘wissen-schafts-charakteristische’ Schwierigkeiten hinauslaufen, auf deren Darstellung letztlich seine eigene These von der Sonderstellung der Geisteswissenschaften beruht.

1. Das eigensprachliche Interpretationsdilemma

Bei der Lektüre als Vorgang passiert es, daß eine im Vorfeld erstellte Oberhypothese (Annahme über die Intention des Autors) sich als falsch erweist und durch eine bessere ersetzt wird. Die Schwierigkeit dabei ist, daß eine korrekte Oberhypothese allein durch intensive Lektüre gerade des Textes zu gewinnen sei, der aber nur durch Zugrundelegung dieser erst zu gewinnenden Oberhypothese verstanden werden kann. Dies sei, so Stegemüller, aber kein Zirkel, sondern ein Dilemma, daß durch Elimination inadäquater Hypothesen überwunden werden könne.

2. Das fremdsprachliche Interpretationsdilemma

In analoger Weise stellt sich die Schwierigkeit der zweiten Deutung dar, deren Interpretation aber im Unterschied auf einem fremdsprachigen Text beruht. Problematisch ist das besonders dann, wenn eine Sprache nicht mehr gesprochen wird. Der Interpret muß also aus überlieferten sprachlichen Äußerungen die damalige Lebenspraxis erschließen, wobei er jedoch die Sprache nicht verstehen kann, ohne Kenntnis von der Lebenspraxis zu haben. Jedoch auch das sei, laut Stegemüller kein unüberwindlicher Zirkel, da es außer Textquellen auch andere Quellen gäbe, die den historischen Zugang ermöglichen.

3. Das Problem des theoretischen Zirkels

Diese Schwierigkeit dieser Deutung liegt in der ‘rätselhaften Natur’ theoretischer Funktionsbegriffe. Hier bestehe die Gefahr eines echten Zirkels, da das Verständnis eines theoretischen Terms, das Verstehen der Theorie, welche er umfaßt, voraussetze.

4. Das Dilemma der Standortgebundenheit des Betrachters

Bei der Betrachtung eines Textes, ist der Betrachter (Historiker/Interpret) in seiner Standortgebundenheit gefangen. Das meint entweder, daß er bei der Betrachtung eine Reihe hypothetischer Annahmen macht, die er keiner Überprüfung unterziehen kann oder, daß sowohl Geistes- als auch Naturwissenschaften durch das Vorherrschen einer nichtrationalen Einstellung charakterisiert sind. Stegemüller empfindet die zweite Deutung als echte Herausforderung.

5. Das Bestätigungsdilemma

Anhand zweier Beispiele, einem geistes- und einem naturwissenschaftlichen, erklärt Stegemüller dieses Dilemma. Zu einem wissenschaftlichen Problem werden zwei in sich schlüssige Alternativhypothesen aufgestellt, die sich zwar gegenseitig ausschließen, die aber beide nicht wissenschaftlich bestätigt werden können. Fraglich bleibt, laut Stegemüller, ob sich der Ausdruck hermeneutischer Zirkel auf das Bestätigungsdilemma an sich bezieht oder auf den Fakt, daß die Sympathie mit der einen oder der anderen Hypothese dem subjektiven Gefühl überlassen bleibt.

6. Das Dilemma in der Unterscheidung von Hintergrundwissen und Tatsachenwissen (Fakten)

Bei der Darstellung dieser Problematik deckt Stegemüller nun den eigentlichen Unterschied zwischen Geistes- und Naturwissenschaft auf: In beiden Fällen führt die Untersuchung der zwei Alternativhypothesen zu einem Bestätigungsdilemma. In der Naturwissenschaft kann dieses Dilemma sinnvoll diskutiert werden, da es möglich ist, die Fakten eines sich darstellenden Problems vom Hintergrundwissen darüber eindeutig und scharf abzugrenzen. In der Geisteswissenschaft sei dies, laut Stegemüller, nicht möglich. Somit falle eine Einigung in Streitfragen schwer, da die Beobachtungstatsachen eines geisteswissenschaftlichen Problems, erst durch das in jahrelanger Arbeit mühsam erworbene Hintergrundwissen bestimmt seien.

Abschließend kommt Stegemüller zu der Erkenntnis, daß alle Wissenschaftszweige in gewisser Weise mehr oder minder potentiell von den angeführten Schwierigkeiten bedroht sind. An der Mythologie der Unüberwindbarkeit des hermeneutischen Zirkels dürfe dennoch nicht länger festgehalten werden.

Jul. 2003

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Quelle: Wolfgang Stegmüller: Der sogenannte Zirkel des Verstehens. In: Das Problem der Induktion: Humes Herausforderung und moderne Antworten. Der sogenannte Zirkel des Verstehens, W. Stegemüller, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1986, S.63-88

Spaß mit Statistik

Montag, 12. November 2007

Wenn ich die abgedichtet.org Statistiken klicke, dann habe ich immer die meiste Freude mit den Searchstrings, die auf meine Seite geführt haben. Da kann man dann sehen, dass einige Internet-User ihre Suchanfragen tatsächlich als Fragen formulieren. Sie geben: „Welche Wirkung haben viele Substantive in einem Gedicht?“, in die Suchmaske ein und landen irgendwie in meinem Blog. Fragen hatte vor einiger Zeit auch der Suchbegriff „Fickgedichte“ für mich aufgeworfen, bis ich feststellte, dass abgedichtet aufgrund einiger Leserkommentar bei Google der vierte Treffer zu diesem Thema ist. Ich nehme das mal so hin und wundere mich nciht weiter. Freuen tue ich mich dann aber, wenn Leute nach so exotischen Dingen wie „Fumeux fume“ suchen und meine Seite finden. Im Sommer hatte ich über das spätmittelalterliche Rondeau eine Arbeit geschrieben und hier veröffentlicht – ein Thema, das nur eine handvoll Menschen auf diesem Planeten interessiert, oder vielleicht doch nicht?

Außerdem beobachte ich in letzter Zeit ein anderes, sehr erfreuliches Phänomen, den Umstand, dass der Konqueror den Internet Explorer als bevorzugten Browser meiner Leser ablöst. Schon vor langer Zeit hatte der Mozilla, den ich selbst auch benutze, den Sprung an die Spitze der Top-10 User Agents geschafft. Nun rückt der Konqueror vor den MSIE 6.0 auf Platz zwei. Der Konqueror ist der Standardbrowser in Linux-Systemen wie Ubuntu und damit, genau wie der Mozilla, freie Software. Microsoft ist offenbar nicht mehr, was Web-Surfer wollen, zumindest nicht jene, die auch meine Seite besuchen.

Alte Musik online

Dienstag, 06. November 2007

Es ist ja immer ein bisschen schwierig mit der alten Musik. Wenn Konzerte unter diesem Titel angesagt sind, dann spielt das meistens auf die historische Aufführungspraxis und nicht etwa das Alter der aufgeführten Komponisten an, so dass man dann doch wieder nur Händel und Haydn zu hören bekommt. Dass ich an der Uni in diesem Semester einen Kurs zur Musiktheorie der klassischen Antike mache, ist dann doch eher die absolute Ausnahme, denn für gewöhnlich fängt Musikgeschichte auch an unserem Insitut erst mit Bach an. Da muß man sich dann als Freund der Mittelaltermusik weitestgehend autark orientieren, was zum Glück zunehmend einfacher wird. Denn inzwischen finden sich auch im Internet einige Anlaufstellen für alte Musik. Nachdem ja in dem deutschsprachigen Mittelalterportal, Mediaevum, die Musikwissenschft eher stiefmütterlich vertreten ist, ist es erfreulich, dass man sich trotzdem langsam seine Adressen zusammensammelt.

Da ist z.B. das niederländische Webradio Conzertzender das live-streams anbietet und auch eine Sparte „oude muziek“ hat. (Einfach auf das türkis-farbene Feld klicken und reinhören!) Außerdem habe ich mich gestern auf der Seite des Digital Image Archive of Medieval Music angemeldet, bei dem auch auch als Nichtakademiker nach Anmeldung freien Zugang zu eingescannten Faksimiles mittelalterlicher Musikmanuskripte erhält. Die Seite wird von Margaret Bent initiiert, ist also in guten wissenschaftlichen Händen. Regelmäßig findet man mich natürlich in der Medieval Music Database der La Trobe University. Wenn ich mich über ein bestimmtes Manuskript, einen Komponisten oder ein spezielles Stück informieren möchte, gucke ich zuerst dort nach Editionen, Literatur, Texten, etc. Leider liegt das Projekt seit Februar 2004 brach und wird nicht mehr weiter upgedated, was wirklich äußerst schade ist. Trotzdem ist das Ganze noch immer eine empfehlenswerte Quelle. Auf der Seite der Medieval Music & Arts Foundation finden sich hingegen spannende Fachtexte, die auch als Einstieg gut geeignet sind. Weiter in die Materie dringende Aufsätze kann man dann bei Jstor – The Scholary Journal Archive finden. Dort kann man die gefundenen Artikel dann auch herunterladen und lesen, vorausgesetzt man surft über ein Netzwerk, das dort registriert ist, z.B. das der FU.

Wer mehr Links auf interessante Seiten zur Mittelaltermusik, zur Paläographie, Kodikologie oder sonstiger mediaevistischer Studien für mich hat, der scheue sich nicht, sie hier zu posten. Ich bin ein dankbarer Abnehmer solcher Infos.