Ideen zur markedness theory

Ich habe einmal für das Enjambement als Stilmittel argumentiert, dass es seine Wirkung nicht entfalten kann, wenn es in einem Text voller Zeilensprünge auftaucht. Das Enjambement ist ein Stilmittel, das, wenn sparsam und präzise angewandt, sehr viel Aufmerksamkeit auf sich zieht. Es beschleunigt einen Vers, indem es ihn überspannt wie ein Gummiband, das ungehalten nach vorne schnellt, sobald man es losläßt. Gibt es aber nur „überspannte“ Verse, so verliert die Figur ihre besondere Wirkung, ähnlich wie etwas Wichtiges, das man sich mit einem Stift markiert hat, nicht mehr hervorsticht, wenn der gesamte Text markiert ist.

An diesem Punkt kommt die markedness theory*1 ins Spiel, die ursprünglich mal von einem Phonologen entwickelt wurde, inzwischen aber auf die gesamte linguistische Forschung angewandt und ausgeweitet wird. Es geht um den Unterschied zwischen dem „Normalen“ und dem Besonderen, dem Speziellen, dem Markierten. Es ist z.B. so, dass der Plural eines Worte mehr Bedeutungen haben und in einem weiteren begrifflichen Kontext gebraucht werden kann, als der Singular eines Wortes, der oft auf einen sehr speziellen Referenten verweist und also markiert ist.

Markedness ist aber kontextabhängig. Normalerweise tanzt nur die Prima Ballerina auf den Zehenspitzen und die übrigen auf dem vollen Fuß, daher ist die Primaballerina als etwas Besonderes markiert. Tanzen aber in einer besonderen Choreographie alle Ballerinas auf den Zehenspitzen, wird jene besonders, die auf dem vollen Fuß tanzt. Markiert ist immer das Besondere, auch wenn die Art der Besonderheit vom Kontext abhängig ist.

In einem Text, in dem jedes Versende mit einem Zeilenende zusammenfällt, ist jener Vers besonders, der über das Ende der Zeile hinausschießt – unser Enjambement ist also markiert. Schießt aber jeder Vers über das Zeilenende hinaus, so verliert die Figur ihre markedness und sticht also nicht mehr in ihrer Wirkung hervor. Die Wirkung verpufft.

Im Kontext der Alltagssprache ist jedes Gedicht schon dadurch markiert, dass es sich einer poetischen also markierten Sprache bedient. Im Kontext des Gedichtes ist das Poetische aber „Normalzustand“ und plötzlich kann eine bewußt saloppe oder derbe Sprache zum Markierten werden. Das Bewußtsein (und ich meine damit internalisiertes Empfinden) für die markedness einer Sprachfigur, kann damit zum Kriterium für das artistische Maß ihrer Anwendung im poetischen Kontext werden.
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1. Ich weiß leider keine adäquate Übersetzung für den englischen Terminus. Markedness heißt auf deutsch „Deutlichkeit“, was aber den essentiellen Aspekt des „Markiert-Seins“ total unter den Tisch fallen läßt und also verundeutlicht.

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