Ich trat zur Nacht in einen Silberspiegel
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Ich trat zur Nacht in einen Silberspiegel,
der friedlich schlummernd neben mir sich fand.
Der Mond gebettet lag zum Seidenband,
der Wind schwang leise rauschend seine Flügel.
Und sachte hob ich blinzelnd meine Lider,
gewahrt die Schöne, deren dunkles Haar
zu blauen Wellen hingegossen war.
Gelöst vom Schlaf die feinen, weißen Glieder.
So hielt sie meine Blicke wohl gefangen.
Da plötzlich überkam mich ein Verlangen.
Die Funken der Begierde übersprangen
und innig wogend glühten mir die Wangen…
Es ist die Liebessehnsucht ein Genuß,
die, mit Verlaub, ein jeder stillen muß.
VI | Jan. 2004
Zur Entstehung
Wer sich mit der klassischen Lyrik ein wenig auskennt, wird schnell feststellen, dass dieser Text sehr von „Willkommen & Abschied“ inspiriert ist, einem Gedicht von Goethe, in dem es um so eine Art One-Night-Stand geht. Das lyrische Ich kehrt dort zur Nacht bei einer ganz verliebten Dame ein, verläßt diese aber, ihre Liebe nächtens ausnutzend, bereits am nächsten Morgen. Um egoistische Lust geht es auch in diesem Text, aber auf eine ganz andere Art und Weise. Marot hat auf Gedichteforen dazu mal eine schöne Interpretation 1 gliefert, an deren Schluß er verzweifelt feststellte, er könne sich für keine seiner drei Lösungen entscheiden. Ich war begeistert, dass er das schrieb, denn es ging mir hier ganz explizit um eine Mehrschichtigkeit, das Nebeneinanderstellen mehrerer Verstehensmöglichkeiten, die sich gegenseitig beeinflussen – eine Taktik, die für mein Dichten zunehmend wichtig werden sollte, mir aber bisweilen die Kritik hermetischer Emotionslosigkeit und nur wenige Fans einbringt. Aber was soll’s.
Der Spiegel ist ein faszinierendes Ding, weil er eine Art Urmetapher darstellt2. Man fühlt sich sofort an Ovids Narziß erinnert. Durch Anspielungen wird immer wieder auf die eine Seite seiner Parabel verwiesen, die Eitelkeit, aber es gibt einen zweiten, viel spannenderen Aspekt. Die Metamorphosen hießen nicht Metamorphosen, wenn es nicht in erster Linie um die individuellen Wandlungen ihrer Charaktere ginge und Narziß‘ Wandlung beginnt bei der Selbsterkenntnis. Dass sie bei der Eitelkeit aufhört, fand ich schon immer übertrieben moralisch, denn Selbsterkenntnis kann auch zu einem gesunden Maß an Selbstverständnis, Selbsteinschätzung, Selbstakzeptanz und schließlich Selbstliebe führen. Ein großer Teil des Leides zwischenmenschlicher Beziehung läßt sich für mich auf mangelnde Selbstliebe zurückführen – Eifersucht, Besitznahme, die Aggressivität der Selbstverteidigung, die aus einem überzogenen Schutzbedürfnis des fragilen Selbst erwächst. Es ist schwierig, andere Menschen zu lieben, wenn man sich selbst nicht liebt. Das Gebot, den Nachbar zu lieben, wie einen selbst, verstehe ich eher als Erkenntnis, denn als Vorgabe.
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- Der Verfasser ist Legastheniker, was zwar Auswirkungen auf seine Rechtschreibung, nicht aber auf den durchaus cleveren Gehalt seiner Worte hat.
- Ich widme mich diesem Thema sehr ausführlich im erstern Teil dieser Hausarbeit.