Unter verwirrten Studenten der Literatur- und Sprachwissenschaften kommt sie immer wieder auf, die Frage, was nun eigentlich ein „Enjambement“ [ɜŋʒɑmbɜməŋ] ist. Das schwierig zu sprechende Wort bezeichnet ein poetisches Stilmittel, kommt aus dem Franzözischen und wird im Deutschen meist mit dem etwas schwammigen Begriff „Zeilensprung“ wiedergegeben.
Das Ganze sprachliche Phänomen des „Zeilensprungs“ ist verknüpft mit der Eigenschaft metrischer Verse mit einer „Kadenz“ aufzuhören. Schon wieder so ein schwieriges Wort. „Kadenz“ das kommt aus dem Lateinischen und bedeutet „fallen“. Auch in der Musik wird der Begriff „Kadenz“ verwandt, dort bedeutet er „Schlußformel“, meist fällt die Melodie dort auf den Grundton der Tonleiter, die Tonika, die innerhalb der Skale einen Ruhepunkt darstellt.
Am Ende eines Verses fällt gleichsam die Stimme und es folgt eine natürliche Sprechpause. Stimmabsenkungen und natürliche Sprechpausen ergeben sich an syntaktischen (die Satzgrammatik betreffenden) Phrasengrenzen, also zum Beispiel am Satzende, vor einem angehängten Nebensatz, vor und nach einem Einschub, zwischen zwei Gliedern einer Aufzählung und so fort. Überall dort, wo man ein Komma oder einen Punkt machen oder eine Konjunktion einfügen könnte, befindet sich eine Phrasengrenze. Dazu ein Beispiel aus Goethes „Willkommen und Abschied“:
Es schlug mein Herz geschwind zu Pferde.
Es war getan, fast eh gedacht.
Der Abend wiegte schon die Erde
und in den Bergen hing die Nacht.
Jeder Vers endet hier mit einer Kadenz, auf der zufälligerweise auch ein Reim liegt. Dass wir an dieser Stelle auch einen Zeilenumbruch machen, dient lediglich der optischen Gliederung, damit das Auge auch sieht, was das Ohr vernimmt. Versende, Kadenz und Reim wären auch da, würden wir die Strophe einfach hintereinanderweg aufschreiben.
Seit dem Mittelalter gilt es in der abendländischen Dichtung als besonders kunstvoll und schön, wenn auf die Kadenz, wie im obigen Beispiel, auch ein Reim fällt, denn das verstärkt die Schlußwirkung der Kadenz. Das Ohr hört dann genau, an welcher Stelle der Vers zu ende ist und ist auf die nächste Kadenz schon vorbereitet.
Jetzt habe ich viel von der Kadenz gesprochen, aber was macht denn nun eigentlich das Enjambement? Das Enjambement nutzt die im Hörer aufgebaute Erwartungshaltung bezüglich der Kadenzen aus und entwickelt seinen Reiz, indem es selbige schamlos enttäuscht.
Ein Enjambement liegt überall dort vor, wo anstelle einer erwarteten Kadenz keine Phrasengrenze liegt, sondern die Phrase über das erwartete Ende des Verses hinaus in den nächsten Vers übergreift. Da wir heute üblicherweise jedem Vers seine eigene Zeile geben, erklärt sich also auch der deutsche Begriff „Zeilensprung“; die Phrase springt in die nächste Zeile über. Am Ende der Zeile befindet sich vielleicht ein Reim, jedoch keine Sprechpause, denn die Phrase ist ja noch nicht zu ende. Bis in die nächste Zeile hinein, bleibt die Spannungskurve intonatorisch erhalten. Dass sich die Spannung nicht an erwarteter Stelle entläd, steigert sie zusätzlich. Erst im nächsten Vers entläd sie sich mit voller Wucht an der nächstgelegenen Phrasengrenze. Dadurch erfährt der Versanfang des Folgeverses eine enorme Stärkung und der aufmerksame Dichter zieht an diese Stelle bewußt die Aufmerksamkeit seiner Leser. Ein Beispiel aus eigener Feder:
Mit fester Hand führ ich die Klinge,
die in dein klagend Herz sich senkt
und in die tiefe Wunde dringe
ich – Dämon, toll und schmuckbehängt.
Erwartetes Versende und Phrasengrenze sind am Ende von Vers drei in den vierten Vers hinein phasenverschoben, so dass das „ich“ am Anfang des vierten Verses eine artifizell gestärkte Betonung erfährt. Das Ich im Text muß ganz schön dominant sein, denkt sich der Leser vielleicht. Neben dem Reiz, der sich für’s Ohr ergibt, kann das Enjambement also auch einen inhaltlichen Zweck im Großen und Ganzen des Sprachwerks erfüllen.
In der modernen Dichtung haben wir es immer seltener mit metrischen Versen zu tun und Reime finden sich auch nur noch in bestimmten, poetischen Ausprägungen, wie dem Rap. Enjambements kann es aber auch bei freien Versen geben, denn auch da kommt es an Phrasengrenzen zu natürlichen Sprechpausen, wie mein gerade erdachtes Exempel zeigt.
Gefangen im Traume,
träumend Erfüllung,
lieg ich,
betrüg mich
und schlafe,
entschwunden dem Schlaf.
Hier sind die Zeilen an den Phrasengrenzen umgebrochen, so dass wir am Ende jeder Zeile tatsächlich eine Kadenz vorfinden. Brechen wir die Zeilen an anderer Stelle, so müßten sich logischerweise Enjambements ergeben.
Gefangen
im Traume träumend
Erfüllung,
lieg ich,
betrüg mich und
schlafe,
entschwunden dem Schlaf.
Auf dem Papier finden wir sie auch, nämlich in Zeile 1, 2 und 5, gleich mehrere also. Und dennoch, die Wirkung vor dem inneren Ohr ist eine völlig andere. Wir hören hier nichts mehr von der überspringenden Intonationskurve, es ergibt sich kein Spannungsbogen und eine Entladung auf eine Stelle, die dann unsere Aufmerksamkeit als Leser und Hörer auf sich zieht, scheint es auch nicht zu geben. Allenfalls in Zeile 6 bekommt man davon noch schwach etwas mit. Tatsächlich kommt es einem vor, als höre man vor lauter Enjambements das Enjambement nicht mehr.
Da ist etwas Wahres dran. Ich hatte ja weiter oben schon angesprochen, dass das Enjambement mit unserer Erwartungshaltung bricht. Wir erwarten eine Kadenz, die nicht kommt. Wenn es in einem Gedicht überwiegend Zeilenumbrüche gibt oder jede Phrase unterschiedlich lang ist, so dass man gar nicht mehr voraussagen kann, wann die nächste Phrasengrenze, sprich Kadenz, kommen müßte, baut sich dahingehend auch keine Erwartungshaltung auf und das Enjambement kann nicht mit ihr brechen. Es ist zwar auf dem Papier vorhanden, aber seine poetische Wirkung verpufft – ohne Kadenz kein Enjambement.
Wer also die Wirkung eines Enjambements innerhalb von freien Versen erzielen möchte, der muß sich erheblich mehr Gedanken darüber machen, wie das sprachliche Umfeld dieser Figur zu gestalten wäre, damit sie überhaupt wirkungsvoll ist. Und dies ist nur einer der Gründe dafür, dass der freie Vers, entgegen dem weit verbreiteten Irrglauben, eine Königsdisziplin der Dichtkunst ist.