Archiv für die Kategorie 'Sprache'

Gummiparagraphen

Mittwoch, 27. Juni 2007

A propos Gummiband. Nicht nur die Wirkung des Enjambements läßt sich als solches paraphrasieren, nein, auch unsere neueren Gesetze und Gesetzesentwürfe weisen zunehmend gatschigen Charakter auf, weshalb sie auch in den Mainstreammedien als Gummiparagraphen bezeichnet werden. Gummiparagraphen zeichnen sich durch den Gebrauch vieldeutiger Worte wie „Verantwortung“ oder „Absichten“ aus, und zwar den Gebrauch in einem Maße, das den gesamten Paragraphen schwammig macht. Das gefährliche daran ist, dass Richter erst interpretieren müssen und dass Recht und Unrecht somit stark von ihrer Interpretation abhängen. Der Bürger, für den diese Gesetze ja eigentlich gemacht sind, weiß daher vorher nie genau, ob sich eines Vergehens gerade schuldig macht oder nicht. Unter Umständen kommt es dann zu einer mit logischem Menschenverstand nicht mehr nachvollziehbaren Rechtsprechung, wie in diesem von SpOn berichteten Fall.

Ein Forenbetreiber haftet, weil sich ein anonymer User seines Boards in einer Weise über einen Dritten ausgelassen hat, die nach dem Empfinden des Dritten dessen Persönlichkeitsrecht angriff und weil dieser Dritte sich darob zu klagen veranlaßt sah. Natürlich greift man sich an den Kopf, nicht nur weil es eigentlich der freien Meinungsäußerung unterliegen sollte, sich über irgendwen auszulassen, nein, auch weil der Forenbetreiber, der nun für diese anonyme Meinungsäußerung wenig kann, dafür haften muß. Die Unsicherheit, die das hervorruft, ist groß. Sollten wir in Deutschland deswegen lieber darauf verzichten, sogenanntem „user created content“ auf unseren Seiten Raum zu bieten? Es könnte ja sein, dass wir sonst für etwas belangt werden, das wir weder meinen, noch sagten.

Erst vor kurzen waren wir zu Besuch im Bundestag, um der „demokratischen“ Abstimmung über den sogenannten Hackerparagraphen (§ 202c StGB) bezuwohnen, der ebenso schwammig ist und von vielen kompetenten Leuten darob stark kritisiert wurde. Ein Argument unserer Bundesregierung war, dass man das Gesetz ja wieder ändern könne, wenn es zu Problemen komme. Ich würde die Rechtsprechung im oben verlinkten Fall deutlich als Problem einstufen, doch über eine Änderung des schwammigen Telemediengesetzes wird nicht nachgedacht. Schließlich hat ein Richter hier Recht gesprochen und was Recht ist, kann ja nicht Unrecht sein. Oder doch?

Der Hackerparagraph ist bisher noch ein Entwurf, der erst noch vom Bundesrat verabschiedet und vom Bundespräsidenten unterschrieben werden muß, bevor er Gesetz wird. Bisher stellt er die Herstellung, den Vertrieb und den Gebrauch von Software zur Systemprüfung und -sicherung unter Strafe. Denn diese Software kann von Crashern benutzt werden, um in fremde Systeme einzudringen, diese auszuspionieren oder sonstig zu manipulieren. So weit so gut.

Was der Entwurf offenbar nicht bedenkt, ist, dass dieselben Tools auch von Administratoren benutzt werden, um ihre Systeme vor solcherlei Angriffen zu schützen. Packetizer, Firewalls und Anti-Viren-Programme fallen z.B. darunter. Wer sie benutzt, könnte sie eventuell demnächst eines Verbrechens schuldig machen. Die Bundesregierung glaubt, sie könne dieses Problem durch die Absichtsklausel lösen, d.h. dass die Handhabung solcher Software unter der Absicht, in fremde Systeme einzudringen, stehen muß, um strafbar zu sein. Nur ist natürlich schwer zu sagen, wer wann welche Absicht hat. Des weiteren kann auch ein Administrator die Absicht haben in ein System einzudringen, nämlich um dessen Sicherheit zu testen.

Die zwei Beispiele zeigen, dass es äußerst gefährlich ist, einem Gesetz durch schwammige Formulierungen zu viel Raum für die Interpretation zu lassen. Nicht nur, dass plötzlich niemand mehr vor dem Gesetz sicher ist, es wird auch dazu führen, dass wir uns aus Angst vor staatlichen Repressionen selbst beschränken. Da dies unsere persönliche Freiheit einschränkt, die durch mehrere Artikel des GG gesichert sind, gefährden schwammig Gesetze unsere Verfassung.
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Wenn dir weitere Beispiele schwammiger Gesetzgebung oder bereits aufgetretener Probleme durch schwammige Gesetzgebung einfallen, scheue dich nicht, sie hier vorzustellen! Gummiparagraphen sind nicht nur ein politisches, sondern auch ein linguistisches Problem.

Ideen zur markedness theory

Dienstag, 26. Juni 2007

Ich habe einmal für das Enjambement als Stilmittel argumentiert, dass es seine Wirkung nicht entfalten kann, wenn es in einem Text voller Zeilensprünge auftaucht. Das Enjambement ist ein Stilmittel, das, wenn sparsam und präzise angewandt, sehr viel Aufmerksamkeit auf sich zieht. Es beschleunigt einen Vers, indem es ihn überspannt wie ein Gummiband, das ungehalten nach vorne schnellt, sobald man es losläßt. Gibt es aber nur „überspannte“ Verse, so verliert die Figur ihre besondere Wirkung, ähnlich wie etwas Wichtiges, das man sich mit einem Stift markiert hat, nicht mehr hervorsticht, wenn der gesamte Text markiert ist.

An diesem Punkt kommt die markedness theory*1 ins Spiel, die ursprünglich mal von einem Phonologen entwickelt wurde, inzwischen aber auf die gesamte linguistische Forschung angewandt und ausgeweitet wird. Es geht um den Unterschied zwischen dem „Normalen“ und dem Besonderen, dem Speziellen, dem Markierten. Es ist z.B. so, dass der Plural eines Worte mehr Bedeutungen haben und in einem weiteren begrifflichen Kontext gebraucht werden kann, als der Singular eines Wortes, der oft auf einen sehr speziellen Referenten verweist und also markiert ist.

Markedness ist aber kontextabhängig. Normalerweise tanzt nur die Prima Ballerina auf den Zehenspitzen und die übrigen auf dem vollen Fuß, daher ist die Primaballerina als etwas Besonderes markiert. Tanzen aber in einer besonderen Choreographie alle Ballerinas auf den Zehenspitzen, wird jene besonders, die auf dem vollen Fuß tanzt. Markiert ist immer das Besondere, auch wenn die Art der Besonderheit vom Kontext abhängig ist.

In einem Text, in dem jedes Versende mit einem Zeilenende zusammenfällt, ist jener Vers besonders, der über das Ende der Zeile hinausschießt – unser Enjambement ist also markiert. Schießt aber jeder Vers über das Zeilenende hinaus, so verliert die Figur ihre markedness und sticht also nicht mehr in ihrer Wirkung hervor. Die Wirkung verpufft.

Im Kontext der Alltagssprache ist jedes Gedicht schon dadurch markiert, dass es sich einer poetischen also markierten Sprache bedient. Im Kontext des Gedichtes ist das Poetische aber „Normalzustand“ und plötzlich kann eine bewußt saloppe oder derbe Sprache zum Markierten werden. Das Bewußtsein (und ich meine damit internalisiertes Empfinden) für die markedness einer Sprachfigur, kann damit zum Kriterium für das artistische Maß ihrer Anwendung im poetischen Kontext werden.
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1. Ich weiß leider keine adäquate Übersetzung für den englischen Terminus. Markedness heißt auf deutsch „Deutlichkeit“, was aber den essentiellen Aspekt des „Markiert-Seins“ total unter den Tisch fallen läßt und also verundeutlicht.

Fehlendes Komma läßt Helene dreimal heiraten

Dienstag, 19. Juni 2007

Gerade lese ich sehr gespannt das Nachwort zu einer Ausgabe der Handschrift Nr. 2920 der östereichischen Nationalbibliothek, die Historikern auch unter dem Namen „Die Denkwürdigkeiten der Helene Kottannerin“ bekannt ist. Dies ist das höchst interessante Selbstzeugnis einer Frau aus dem 15. Jahrhundert, die Hofdame der Königin Elisabeth war. Königin Elisabeth wurde 1422 die Frau des Herzogs Albrecht V. von Österreich und war selbst Tochter des ungarischen Königs und deutsch-römischen Kaisers Siegmund. Durch ihren Auftrag war Helene Kottanner nach Albrechts Tod in den Kronenraub verwickelt, der dem posthum geborenen Königssohn Ladislaus die ungarische Herrschaft sichern sollte.

Von dieser Helene Kottanner weiß man nun, dass sie zweimal verheiratet war; zunächst bis 1431 mit Peter Székeles, dem Ödenburger Bürgermeister, später ab 1432 dann mit Johannes Kottanner, der sie auch nach Ungarn begleitete. Im Nachwort Karl Mollays ist aber von einer sehr ominösen, dritten Heirat die Rede:

Frau Helene heiratete nämlich im Jahre 1432 auf Empfehlung des Wiener Stadtrates und des Wiener Domprobstes mit Einwilligung ihres Vaters und ihrer nächsten Verwandten sowie mit Erlaubnis des Ödenburger Stadtrates Johannis Kottanner den Kammerherren des Domprobstes, der nach Angaben Uhrlitz erst 1426 seine Großjährigkeit erreichte, also wohl jünger als Frau Helene war.

Wenn man Mollay also glauben darf, heiratete Helene im Jahr 1432 mit Erlaubnis Johannis Kottanners, der zu diesem Zeitpunkt Ödenburger Stadtrat war, einen gewissen Kammerherren des Domprobstes, der nicht näher benannt ist. Was hat das zu bedeuten, fragt sich der aufmerksame Geschichtsstudent da. Ganz einfach: Es bedeutet, dass Kommata für das Verständnis geschriebener Sprache von ausschlaggebener Bedeutung sein können. In Wirklichkeit heiratete Helene nämlich 1432 Johannes Kottanner, den Kammerherren des Dompobstes, und zwar mit der Erlaubnis des Ödenburger Stadtrates, der nicht näher benannt ist. Für diese Erkenntnis habe ich eine Weile gebraucht und jetzt werde ich einfach weiterlesen.

Die Kunst, in 24 Stunden ein schlechter Dichter zu werden

Sonntag, 10. Juni 2007

Ich hatte mich schon immer gefragt, wie es kommen kann, dass so viele schlechte Dichter so viele schlechte Gedichte schreiben. Der Philosoph und Schriftsteller Fritz Mauthner hat eine Antwort: Sie müssen „Poetik. Eine Anleitung zur Dichtkunst“ gelesen haben. Mauthners Rezension zu dem anonym erschienenen Bändchen wirkt trotz ihres 120jährigen Alters in ihrer Sprachkomik sehr modern und hat mich Freudentränen lachen lassen. Mein Dank für diese (Wieder-)Entdeckung gilt Clarisse1 mit ihrem Blog Sinniges, Sinnliches, Sittliches. (mehr …)

Précis: Linguistik und Poetik

Sonntag, 03. Juni 2007

Précis sind kurze Zusammenfassungen der wichtigsten Thesen und Argumente wissenschaftlicher Fachaufsätze. Die meisten schrieb ich im Grundstudium zu sprachtheoretischen Texten.

Diesmal bespreche ich den ersten Teil von Roman Jakobsons Abschlußrede „Linguistics and Poetics“ (1958/1960), darin er anhand seines Sender-Empfänger-Modells sechs Funktionen der Sprache postuliert. Besonderen Wert legt er dabei auf die poetische Sprachfunktion.

Linguistik und Poetik ~ Roman Jakobson

Da ich heute 8 Stunden im Blockseminar zum Thema „Issues in Musical Semiotics“ saß, habe ich mir geschworen, am Abend keine geistigen Höchstleistungen mehr zu vollbringen. Dennoch kann ich mich der Aufbereitung eines kleinen Teils des dort Besprochenen nicht erwehren, zumal es schon lange mein Anliegen war, hier darüber zu sprechen. Es geht um die von Roman Jakobson in seiner Abschlußrede „Linguistics and Poetics“ entwickelte Theorie der sechs Sprachfunktionen.

In Anbetracht der Erkenntnisse des russischen Strukturalismus*1 scheint seine These naheliegend: Sprache hat mehr Funktionen als das bloße Übermitteln von Inhalten. Welche Funktionen das sind, entwickelt Jakobson anhand eines einfachen Sender-Empfänger-Models. Ein Sender sendet sein sprachliches Zeichen durch einen Kanal einem Empfänger, das heißt zu deutsch, einer spricht mit einem anderen, der zuhört. Das sprachliche Zeichen ist das akustische Signal, das der Zuhörer wahrnimmt und der Kanal ist die Verbindung, die zwischen beiden bestehen muß, damit sie Kommunizieren können. Der Kanal kann also z.B. das gesprochene Wort sein oder ein geschriebenes Buch oder auch die Internetverbindung zweier Chatter. Das sprachliche Zeichen hängt nicht in der Luft, es steht in einem Kontext. Beide sind durch den Code miteinander verbunden. Der Code ist etwas schwierig zu erklären; er ist das, einen Baum in der Landschaft mit dem Wort „BAUM“ verbindet, das wir verwenden, um über ihn zu sprechen. Er ist quasi eine gesellschaftliche Übereinkunft darüber, auf was für ein Ding sich das Wort „BAUM“ bezieht. (Wenn jemandem eine bessere Erklärung einfällt, nur zu!)

Jedem Element dieses Models, also dem Sender, dem Empfänger, dem sprachlichen Zeichen, dem Kanal, dem Kontext und dem Code ordnet Jakobson eine Sprachfunktion zu, welche ich erst auflisten, dann erklären möchte.

  • emotiv/expressiv → Sender
  • konativ → Empfänger
  • poetisch → sprachliches Zeichen
  • phatisch → Kanal
  • referentiell → Kontext
  • metalinguistisch → Code

Die referentielle Sprachfunktion ist jene, die wir mit dem Naheliegendem, dem „Übermitteln von Inhalten“ verbinden. Wir verwenden Sprache, um etwas über die uns umgebene Wirklichkeit (Kontext) und die darin befindlichen Dinge (Referenten) zu vermitteln. Sei es den Philosophen überlassen, an dieser Stelle über den Wahrheits- oder Wirklichkeitsgehalt dessen, was wir um uns und an uns wahrnehmen, zu spekulieren. Wichtig für die Linguistik ist die Feststellung, dass Sprache referenziert, also referentielle Funktion hat. Referentielle Sprache ist relativ wertfrei, das ist sie nicht, wenn sie dem Empfänger etwas über die Befindlichkeit des Senders vermittelt, was er fühlt, denkt, wünscht, braucht. Tut sie dies, nennt man das emotiv*2 oder expressiv. Die konative Sprachfunktion ist es hingegen, einen Apell an den Empfänger zu richten. Wenn man z.B. möchte, das jener das Fenster schließt, weil es kalt ist, so könnte man ihn sprechend dazu auffordern oder auch einfach bemerken, dass es ja ziemlich kalt sei und hoffen, dass er die implizite (hineingelegte) Aufforderung versteht. Meine Mutter neigt dazu, bei längeren Erklärungen an jeden Satz ein „Weißte!?“ anzuhängen. Das ist Berlinerisch und heißt so viel wie: „Verstehst du mich? Hörst du zu?“ Sie testet dann, ob ich ihr noch zuhöre (oder ob in der halben Stunde, in der sie mich nicht hat zu Wort kommen lassen, meine Gedanken vielleicht schon nach ganz woanders abgeschweift sind). Sprache dient also auch dazu, den Kanal zu testen, hat phatische Funktion, sagt der Linguist. „Der wer?“, wird der ein oder andere Leser fragen und ich sage: „Der Linguist, das ist ein ‚Sprachforscher‘.“ Schon haben wir uns über den Code verständnigt, abgecheckt, ob wir auch dieselbe Sprache sprechen. Jakobson nennt das die metalignuistische Sprachfunktion.

Eine Sprachfunktion fehlt noch, weiß jeder, der mitgezählt hat, das ist die poetische. Die interessiert alle Dichter ganz besonders, denn es geht um die Frage der Poetizität, also den Umstand, dass Sprache poetisch ist/sein kann. Für Jakobson ist Poetizität eine Strukturfrage. Wenn wir sprachliche Äußerungen, wie eine Phrase, einen Satz, einen Text produzieren, wählen wir aus, was wir referenzieren möchten (Selektion) und setzen danach die Worte zusammen (Kombination).

  • Der Hund hat Hunger.
  • Die Katze hat Hunger.
  • Die Katze hat Durst.

Die horizontale Achse, also die Auswahl zwischen Hund und Katze, sowie die Auswahl zwischen Hunger und Durst, ist die Selektion. Je nach dem, für welches Wort ich mich entscheide, kann ich nur bestimmte Worte kombinieren, also in der vertikalen Achse anhängen. ‚Der Baum hat Hunger‘ oder ‚Die Katze hat Blätter‘ sind Kombinationen, die eher befremdlich bis sinnlos erscheinen. Auf welche Regeln wir uns unbewußt berufen, wenn wir fühlen, dass etwas mit diesen Sätzen nicht stimmt, das herauszufinden versuchen die Linguistien unter den Semiotikern.

Bei der Entstehung eines Gedichtes (Jakobson geht freilich von Wortkunstwerken aus) passiert mehr als das. Prof. Dr. David Lidov, der Dozent meines Blockseminars, drückte das heute so aus: „Poetical function projects the axis of selection into the axis of combination.“ Also, die poetische Funktion projiziert die selektive Achse auf oder in die kombinatorische. Ich glaube, was er damit meint, ist Folgendes: Katze und Hund, aber auch Hunger und Durst sind Elemente zweier Kategorien, die neben anderen Elementen derselben Kategorie zur Auswahl stehen. Dem Dichter stehen aber Kategorien zur Verfügung, die über die Kategorien von „Alltagssprache“ hinausgehen, z.B. der Reim*3. Normalerweise sprechen wir nicht in Reimen. Der Umstand, dass aber Katze, Matratze, Glatze und Fratze sich reimen, läßt diese ansonsten heterogenen Worte zu Elementen einer möglichen Kategorie werden: ‚Katze kratzt mit Tatze Kratzer in Glatze auf Matratze, Fatzke zieht Fratze‘, fällt mir dazu spontan ein. Das ist nicht besonders tiefgründig, aber dafür sehr poetisch. 🙂

Die poetische Funktion von Sprache ist es, mit sich selbst zu spielen, hat der Dichter in mir oft räsonniert und dahingehend ist er wie ein Kind, das gerade die Welt entdeckt – er hat Spaß daran, beim Sprechen mit Sprache zu spielen oder um des Spiels mit Sprachen Willen zu sprechen.

Nun darf man sich das Ganze Brimorium um die sechs Sprachfunktionen nicht so vorstellen, dass jeder Aussage, die wir machen, ganz deutlich eine Sprachfunktion zuzuordnen ist. Bei sehr minimalistischen Äußerungen mag das noch angehen, wird unsere Rede aber komplexer, verschwimmen hier die Grenzen, und verschiedene Sprachfunktionen treten mit unterschiedlicher Dominanz nebeneinander auf. Alltagssprache kann poetisch sein, ist dies aber nicht in erster Linie. Sprache, die in erster Linie poetisch ist, findet sich z.B. in Gedichten, Tragödien, Romanen, also Texten der sogenannten ’schönen Literatur‘. Wer aber mal einen Roman gelesen hat, weiß, dass da irgendwie mehr passiert, als ein Spiel mit Sprache. Die Sprache in einem Roman ist nicht nur poetisch, sie ist auch (und zwar an zweiter Stelle) referentiell/narrativ – d.h. sie erzählt uns etwas und bezieht sich dabei auf die uns umgebende Wirklichkeit. Alle Texte, die an erster Stelle poetisch und an zweiter Stelle referentiell/narrativ sind, nennt man episch.

Bei Gedichten wird auch etwas referenziert, aber nicht an zweiter Stelle. „In Gedichten geht es um Gefühle“, habe ich im Lyrikforum oft gelesen. Das ist insofern richtig, als dass Gedichte uns Optionen subjektiver Emotionalität (oder besser Emotivität) vermitteln. Sicher ist das Ich eines Gedichtes nicht mit dem Sender, also dem Autor gleich zu setzen, aber das ist eine andere Geschichte. Fakt ist, wir nennen Texte, die an erster Stelle poetisch und an zweiter Stelle emotiv sind auch Lyrik.

Die von allen sicher schon erwartete Dramatik ist nicht so ohne weiteres anhand der Jakobsonschen Theorie der sechs Sprachfunktionen zu erklären. Zwar sind auch Dramen in erster Linie poetisch (man schaue sich nur die Shakespearschen Pentameter an!), allerdings gibt es keine Funktion, die an zweite Stelle treten könnte, die die Idee des Dialogs, der gesprochenen Rede als Unikum betrachtet. Dennoch dürfte aber anhand der an Jakobson entwickelten Gattungstheorie schon klar werden, weshalb es mehr als problematisch ist, jede Epik als Prosa zu bezeichnen, alles, was metrisch ist, aber Lyrik zu nennen*4.

Jakobson geht im weiteren Verlauf seines Textes auf metrische Besonderheiten der russischen und anderer Sprachen ein, was für mich an dieser Stelle erst einmal nicht weiter von Interesse ist. Hier sollte es insbesondere um die poetische Sprachfunktion und die daraus abgeleiteten literarischen Gattungen gehen.

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  1. Um es kurz und knapp, dafür aber auch oberflächlich und ungenau zu machen: Der Strukturalismus ist eine Theorie, die Sprache als System von Zeichen versteht. Die Zeichen haben eine Form (Signifikant/Ausdruck) und einen Inhalt (Signifikat/Sinn). Die Theorie der Zeichensysteme (Sprache ist eines, aber es gibt mehr) bezeichnet man hingegen als Semiotik/Semiologie.
  2. Ich erinnere mich an vor Jahren geführte, lange Debatten, die zu erklären versuchten, warum das Wort „emotiv“ anstelle von „emotional“ gebraucht wird und ich weiß noch, dass es etwas mit der Absicht des Senders zu tun hatte. Denn sein Seufzen muß kein Indix für seinen emotionalen Zustand sein, es kann genausogut sein, dass er den Empfänger nur glauben machen möchte, ihn bedrücke etwas. Kann mir das jemand noch mal genauer erklären?
  3. Man spricht bei poetischen Kategorien, wie Reim, Metrum, Metapher, Pleonasmus, etc. auch von Paradigmen. Wir erkennen unterschiedliche poetische Stile in verschiedenen Epochen anhand von Paradigmenwechseln.
  4. Denn ohne Zweifel sind prosaisch und metrisch Aspekte der Form, episch und lyrisch Asekte der Funktion und ein epischer Text kann ebenso metrisch sein, wie ein Lyrischer Text prosaisch sein kann.

Quellen/Links:

Fremdwörter für Wortfremde, heute: Parömiologie

Dienstag, 15. Mai 2007

Die gestrige Frage einer Freundin, ob ich denn wüßte, was „parömiologisch“ bedeute, mußte ich leider verneinen. Sie hätte das Wort in einem Fachtext gelesen, könne aber nichts damit anfangen. Weder aus diversen digialen und gedruckten Fremdwörterbüchern sei sie schlau geworden, noch aus dem Kontext, in dem das Wort verwandt wurde. Auch ich konnte mir dazu nichts zusammenreimen. Den Großteil meiner Bücher noch in Umzugskisten wissend, machte ich mich heute morgen erst mal im Internet auf die Suche.
Google: „Meinten sie praxiologisch?“
Nee, meinte ich nich… Allerdings fand ich einige wenige Texte, in denen das Wort auftauchte. Der Kontext deutete auf einen sprachwissenschaftlichen Gebrauch des Wortes hin, aber wirklich aufschlußreich war das nicht. Wortschatz, Uni Leipzig und DWDS lieferten 0 Ergebnisse. Ein „Wie schlau sind sie?“-Fremdwörter-Test, auf den ich zwischendurch stieß, ließ mich vermuten, dass der Focus seinen Lesern schmeicheln möchte. (Das dort abgefragte Wissen, reichte nicht einmal, um einem Troglodythen zu imprägnieren.) Was „parömiologisch“ bedeutet, hätten sie fragen sollen! Haben sie aber nicht…

Na ja, lange Rede kurzer Sinn. Die Suche ließ mich unbefriedigt meine Bücherkisten aufreißen und letztlich fand ich irgendwann in einer von ihnen mein „Wahrig. Fremdwörterlexikon“. Das hatte Folgendes zum Thema Parömiologie zu sagen: „Lehre von den Sprichwörtern [grch. ‚paroimia‘ Sprichwort, Denkspruch, Gleichnis + …logie„, und ich war endlich beruhigt und schlauer als vorher. 🙂

Der Zauber der Sprache aus informationstheoretischer Sicht

Donnerstag, 28. Dezember 2006

Die Sprache ist ein, was die informationstheoretische Betrachtung betrifft, hochgradig redundantes Konstrukt. Wenn wir jemandem eine Information auf Basis der Sprache übermitteln, so liefern wir unserem Gegenüber gleich ein Vielfaches der relevanten Informationsmenge. Diese Tatsache wird bei computerbasierten Komprimierungsverfahren ausgenutzt um Texte zu komprimieren . Völlig klar, dass solch ein Kompressionsverfahren nicht die semantischen Redundanzen und Irrelevanzen, sondern nur jene auf der „Zeichenebene“ entfernt. Diese Redundanz der Sprache hat, und darum soll es nun hier gehen, jedoch noch einen ganz anderen witzigen Nebeneffekt: Es lassen sich im Text „geheime“ Nachrichten verstecken, wobei hierbei die Informationsmenge ausgenutzt werden kann, die nicht zur Übertragung der primären Information notwendig ist. Um das zu erreichen wird der irrelevanten Informationsmenge eine „geheime“ Information aufgeprägt.

kleines Beispiel: „das Wetter gefällt niemandem“
das Metrum könnte man so bestimmen: xXxxXXxx

Nun steckt in diesem Metrum bereits ein einfacher digitaler Binärcode mit dessen Hilfe man im Metrum selber Informationen codieren könnte.
(Hier könnte man das Metrum als ein Datenbyte mit 8 Bit verstehen: 01001100)
Übrigens: Unser Gehirn verarbeitet auch diese 8 Datenbits (meist unterbewusst), da uns der „Klang“ des Metrums ja auch beeinflusst.
Aber nicht nur Metren enthalten dieses ,zur Chiffrierung notwendige, Informationspotenzial. Auch das gesamte hochkomplexe Geflecht der klang bestimmenden Vokale oder Konsonanten ist hochgradig informationsgeladen und ließe sich sicherlich ausnutzen. Das Interessante ist nun aber, dass dies nicht nur eine witzige und verschrobene Spielerei ist, sondern Alltag. Ohne dass wir uns dessen bewusst sind, verarbeitet unser Hirn ständig solche, nicht direkt erkennbaren, Subinformationen, welche sich irgendwo im Dickicht der Sprache verbergen. Beim gesprochenen oder gar gesungenen Wort wird diese Subinformationsvielfalt besonders krass spürbar. Wenn wir in ein Konzert gehen, wollen wir ja nicht nur den Informationsgehalt des gesungenen Textes genießen, sondern die gigantische Subinformationsfülle, welche sich in den klanglichen Nuancen verbirgt.

Ich glaube das der „Zauber“ der Lyrik in der kunstvollen Ausnutzung der „Subinformationsmenge“ besteht, also darin dem Hirn neben der einfachen ersten Bedeutungsschicht auch weitere Informationsschichten zu präsentieren, die dann oft unterbewusst wirken und uns daher so sprachlos machen. Wer kennt es nicht: Das Gefühl des fassungslosen Staunens und Ergriffenseins nach dem Lesen eines sehr guten Gedichtes. Nein: wir sind nicht ergriffen weil uns der oberflächliche Informationsgehalt beeinflusst, sondern weil uns Informationen auf unterschwellig verlaufenden Kanälen erreicht. Irgendwo in den Texten steckt Information, welche uns so stimuliert, dass wir vom Text begeistert sind. Besonders gut sind Texte, bei denen wir nicht erklären können warum wir so ergriffen sind. Der Text wirkt einfach, ob wir wollen oder nicht.

Was mich an der Sprache so fasziniert ist eben ihre undurchschaubare Tiefe, welche letztlich auf ihrer Informationsdichte beruht, von der wir nur einen kleinen Teil bewusst verarbeiten. Eventuell empfindet ihr das ähnlich – Über Hinweise, Denkanstöße, weiterführende oder vervollständigende Anmerkungen und Anregungen würde ich mich sehr freuen.

Liebe Grüße
GEO

4500 Jahre alte Reime

Dienstag, 05. Dezember 2006

Gerade bereite ich mit ein paar Komilitonen für’s Uni-Radio eine Literatur-Sendung vor. Es soll um den Reim gehen und wir wollen gucken, wie es ihm heute ergeht. Als Alt-Germanist stürze ich mich in einem Bericht erstmal auf seine Geschichte. Über den Stabreim und die Endreimgenese im germanischen Sprachraum habe ich ja ungefähren Überblick, aber jetzt hat mir eine befreundete Ägyptologin neues Terrain gezeigt: altägyptische Reime.

Aufgeschrieben wurden sie vor ca. 4500 Jahren in den Räumen und Gängen der Pyramiden der Könige und einiger Königinnen des Alten Reichs in Ägypten. Bei diesen Pyramidentexten handelt es sich um religiöse Totentexte, Dramatisches, Hymnen, Litaneien und Zaubertexte, die einiges an sprachmagischem Material enthalten unter anderem Reime. Diese Reime funktionieren nicht so, wie wir uns heute einen Reim vorstellen. Es handelt sich vielmehr um Alliterationen, die sich nicht unbedingt nur am Wortanfang befinden, sondern auch mittendrin oder am Ende stehen. Bekannt sind stabende Konsonanten, die auch in Gruppen oder permutierenden Verbindungen auftreten. Über die Vokale kann man hingegen wenig sagen, denn das altägyptische Schriftsystem zeichnet sie nicht auf.

Ein weiteres, sehr interessantes Beispiel für den ägyptischen Reim ist der sogenannte „Fingerzählreim“, der sich in zwei verschiedenen Papyri eines Totenbuchtextes befindet und nicht nur in Versendposition reimt, sondern sogar einen strophischen Aufbau und möglicherweise Parallelsyntax verfolgt. Der Fährmann weigert sich, den bittstellenden Toten über den Fluß ins Totenreich zu bringen, denn dieser könne, so unterstellt er, ja nicht einmal seine eigenen Finger zählen. Mit dem Fingerzählreim beweist der Tote aber, dass er das doch kann. Man kann sich das ungefähr vorstellen, wie diese Reime, die uns unsere Mütter immer vorgesprochen haben: „Das ist der Daumen. Der schüttelt die Pflaumen. Der liest sie auf, etc.“ Witzig finde ich, dass die altägyptischen Dichter offenbar schon vor denselben Selektions-Problemen standen wie wir heute: Zugunsten des Reims finden sich im Fingerzählreim z.T. ungewohnte Wortstellungen und -formen.

„Es kann kein Zweifel sein, daß wir es in unserem Fingerzähltext mit dem ältesten Beispiel des Reims in Ägypten und aller Wahrscheinlichkeit nach auch dem ältesten Reime auf Erden überhaupt zu tun haben“, heißt es bei Sethe.

Unter den jüngeren Hierogrammaten erfreut sich die Alliteration zunehmender Beliebtheit. Später finden sich aber auch identische Reime, etymologische Reime, Paronomasien und ähnliche parallelistische äquivoke Gebilde. Forscher nehmen heute an, dass die altägyprischen Reime keine Zufälle waren, sondern dass sie zum Schmuck der Sprache beitrugen und deren magische Wirkung positiv unterstützten. Zum Teil hatten sie sogar Gliederungsfunktion, so wie wir das vom heutigen Endreim her kennen.

Für mich war das ein spannender Exkurs, selbst ohne Altägyptisch zu können.
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  • Hermann Grapow: „Sprachliche und schriftliche Formung ägyptischer Texte“ in Leipziger Ägyptologische Studien, 1931
  • Firchow: „Stilistik in den Pyramidentexten“, Akademie der Wissenschaften, Berlin, 1953
  • K. Sethe „Ein altägyptischer Fingerzählreim“ in Zeitschrift für ägyptische Sprache 54, 1918

Dróttkvætt [Strophenform]

Samstag, 11. November 2006

Das Dróttkvætt (sprich: Drotzkwett) ist eine Strophenform, und zwar die strengste, die die altnordische Skaldendichtung zu bieten hat. Sie war in der Zeit zwischen dem 10. und dem 13. Jahrhundert gebräuchlich und ist sehr komplex. Da ich es für spannend und interessant halte, diverse poetische Formprinzipien kennenzulernen, habe ich hier mal die Grundlagen zum Dróttkvætt zusammengefaßt.

Das Dróttkvætt („Hofton“) ist die strengste Strophenform der altnordischen Skaldendichtung und gleichsam ihr Hauptversmaß. 5/6 aller erhaltenen Texte sind im Hofton überliefert.

Metrische Struktur

Eine Strophe („vísa“) besteht aus je 2 Halbstrophen („helmingr“) mit je vier sechsgliedrigen1 Halbzeilen („vísuorð“). Im Anvers müssen sich zwei Stäbe („suθlar“) auf betonten Silben befinden, im Abvers ein Stab („höfuðstaðr“) auf der ersten Silbe, wobei Konstonanten mit sich selbst staben und Vokale miteinander2.

In jedem Halbvers befindet sich zusätzlich ein Binnenreim („hending“), wobei hier der Gleichklang von Lauten innerhalb von Reimworten gemeint ist. Jede vorletzte, betonte Silbe nimmt am Binnenreim teil. Der Reimpartner muß auf einer betonten Silbe weiter vorn sein. In jedem ungeraden Halbvers sind die Binnenreime Halbreime („skoθhending“), d.h. nur Konsonantenklänge stimmen überein. In geraden Halbversen sind die Binnenreime jedoch Vollreime („adalhending“), d.h. Vokale und Konsonanten lauten gleich.

Darüber hinaus sind im Hofton sogenannte Kenningar unabdingbar. Das sind zwei- oder mehrsilbige, bildliche Umschreibungen, die sich im Idealfall nur mit einer speziellen Kenntnis der altnordischen Mytholgie entschlüsseln lassen. Einige Kenningar sind auch aus dem Kontext heraus zu entschlüsseln. Typischerweise ist jede Halbstrophe von einem Kenning bestimmt, das auch mehrere Teile oder Glieder haben kann.

Da der Dichter durch diese Formstrenge relativ eingeschränkt ist, besteht seine einzige Ausweichmöglichkeit in der Wortstellung, was darauf hinausläuft, dass die Syntax nicht immer leicht zu durchschauen ist.

Beispiel

Das Beispiel ist ein Totenpreis für den dänischen Wikingerführer Sibbe, der in jüngerem Futhark (Runen) auf den Stein von Karlevi geritzt ist. Fett sind die Stäbe, unterstrichen die Binnenreime und kursiv die Kenningar, wobei zusammenhängende Teil-Kenningar durch * gekennzeichnet sind.

Folginn liggr hinn’s fylgðu
(flestr vissi þat) mestar
dáðir dolga þrar
draugr
í þeimsi haugi.
Mun-at reið-Viðurr* ráða
rógostarkr í Danmǫrku
*Endils jǫrmungrundar
ørgrandari landi.

In diesem Hügel verborgen liegt der Krieger („Baum der Thrud der Kämpfe“), dem (die meisten wissen das) die größten Taten folgten. Nicht wird ein kampfstarker, untadeliger See-Krieger („Wagen-Odin des weiten Grundes des Endill“) über Land in Dänemark herrschen.

Überlieferung

Viele Skaldenstrophen sind als Zitate in Sagas oder in der Snorra-Edda, dem Skaldenlehrbuch Snorri Sturlusons (1079 – 1241), überliefert. Im Gegensatz zu Edda-Liedern sind die Skaldenstrophen häufig mit Verfassernamen angeführt.

Frühe Formen finden sich bei Bragi enn gamli Boddason (9 Jh.), dem ersten namentlich bekannten Skaldendichter und Egill Skallagrímsson, der um 900 bis nach 990 gelebt hat.

Literatur

  • Andersson, Th. / Marold, E. (2000), „Karlevi“, 2RGA 16, 275-280.
  • Jónsson, Finnur (1912 – 1915), Den Norsk-Islandske Skjaldendigtning, Bde. A I-II, B I-II, København und Kristiana

Weblinks

Wer mehr Infos zum Dróttkvætt (Dróttkvaett, Drottkvaett) oder Verbesserungsvorschläge zu diesem Artikel hat, sei dazu ermuntert, sein Wissen hier beizutragen.
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1. Die Sechsgliedrigkeit entspricht weitestgehend einer Sechssilbigkeit mit drei Hebungen, ist aber doch nicht ganz dasselbe.
2. Die Konsonantenkombinationen sk, sp, st bilden eine Ausnahme. Sie staben nur mit sich selbst, nicht aber mit s, während Kombis wie kr oder kl durchaus mit k staben. Als Vokal wird auch j behandelt.

Kein Enjambement ohne Kadenz

Mittwoch, 04. Oktober 2006

Unter verwirrten Studenten der Literatur- und Sprachwissenschaften kommt sie immer wieder auf, die Frage, was nun eigentlich ein „Enjambement“ [ɜŋʒɑmbɜməŋ] ist. Das schwierig zu sprechende Wort bezeichnet ein poetisches Stilmittel, kommt aus dem Franzözischen und wird im Deutschen meist mit dem etwas schwammigen Begriff „Zeilensprung“ wiedergegeben.

Das Ganze sprachliche Phänomen des „Zeilensprungs“ ist verknüpft mit der Eigenschaft metrischer Verse mit einer „Kadenz“ aufzuhören. Schon wieder so ein schwieriges Wort. „Kadenz“ das kommt aus dem Lateinischen und bedeutet „fallen“. Auch in der Musik wird der Begriff „Kadenz“ verwandt, dort bedeutet er „Schlußformel“, meist fällt die Melodie dort auf den Grundton der Tonleiter, die Tonika, die innerhalb der Skale einen Ruhepunkt darstellt.

Am Ende eines Verses fällt gleichsam die Stimme und es folgt eine natürliche Sprechpause. Stimmabsenkungen und natürliche Sprechpausen ergeben sich an syntaktischen (die Satzgrammatik betreffenden) Phrasengrenzen, also zum Beispiel am Satzende, vor einem angehängten Nebensatz, vor und nach einem Einschub, zwischen zwei Gliedern einer Aufzählung und so fort. Überall dort, wo man ein Komma oder einen Punkt machen oder eine Konjunktion einfügen könnte, befindet sich eine Phrasengrenze. Dazu ein Beispiel aus Goethes „Willkommen und Abschied“:

Es schlug mein Herz geschwind zu Pferde.
Es war getan, fast eh gedacht.
Der Abend wiegte schon die Erde
und in den Bergen hing die Nacht.

Jeder Vers endet hier mit einer Kadenz, auf der zufälligerweise auch ein Reim liegt. Dass wir an dieser Stelle auch einen Zeilenumbruch machen, dient lediglich der optischen Gliederung, damit das Auge auch sieht, was das Ohr vernimmt. Versende, Kadenz und Reim wären auch da, würden wir die Strophe einfach hintereinanderweg aufschreiben.

Seit dem Mittelalter gilt es in der abendländischen Dichtung als besonders kunstvoll und schön, wenn auf die Kadenz, wie im obigen Beispiel, auch ein Reim fällt, denn das verstärkt die Schlußwirkung der Kadenz. Das Ohr hört dann genau, an welcher Stelle der Vers zu ende ist und ist auf die nächste Kadenz schon vorbereitet.

Jetzt habe ich viel von der Kadenz gesprochen, aber was macht denn nun eigentlich das Enjambement? Das Enjambement nutzt die im Hörer aufgebaute Erwartungshaltung bezüglich der Kadenzen aus und entwickelt seinen Reiz, indem es selbige schamlos enttäuscht.

Ein Enjambement liegt überall dort vor, wo anstelle einer erwarteten Kadenz keine Phrasengrenze liegt, sondern die Phrase über das erwartete Ende des Verses hinaus in den nächsten Vers übergreift. Da wir heute üblicherweise jedem Vers seine eigene Zeile geben, erklärt sich also auch der deutsche Begriff „Zeilensprung“; die Phrase springt in die nächste Zeile über. Am Ende der Zeile befindet sich vielleicht ein Reim, jedoch keine Sprechpause, denn die Phrase ist ja noch nicht zu ende. Bis in die nächste Zeile hinein, bleibt die Spannungskurve intonatorisch erhalten. Dass sich die Spannung nicht an erwarteter Stelle entläd, steigert sie zusätzlich. Erst im nächsten Vers entläd sie sich mit voller Wucht an der nächstgelegenen Phrasengrenze. Dadurch erfährt der Versanfang des Folgeverses eine enorme Stärkung und der aufmerksame Dichter zieht an diese Stelle bewußt die Aufmerksamkeit seiner Leser. Ein Beispiel aus eigener Feder:

Mit fester Hand führ ich die Klinge,
die in dein klagend Herz sich senkt
und in die tiefe Wunde dringe
ich – Dämon, toll und schmuckbehängt.

Erwartetes Versende und Phrasengrenze sind am Ende von Vers drei in den vierten Vers hinein phasenverschoben, so dass das „ich“ am Anfang des vierten Verses eine artifizell gestärkte Betonung erfährt. Das Ich im Text muß ganz schön dominant sein, denkt sich der Leser vielleicht. Neben dem Reiz, der sich für’s Ohr ergibt, kann das Enjambement also auch einen inhaltlichen Zweck im Großen und Ganzen des Sprachwerks erfüllen.

In der modernen Dichtung haben wir es immer seltener mit metrischen Versen zu tun und Reime finden sich auch nur noch in bestimmten, poetischen Ausprägungen, wie dem Rap. Enjambements kann es aber auch bei freien Versen geben, denn auch da kommt es an Phrasengrenzen zu natürlichen Sprechpausen, wie mein gerade erdachtes Exempel zeigt.

Gefangen im Traume,
träumend Erfüllung,
lieg ich,
betrüg mich
und schlafe,
entschwunden dem Schlaf.

Hier sind die Zeilen an den Phrasengrenzen umgebrochen, so dass wir am Ende jeder Zeile tatsächlich eine Kadenz vorfinden. Brechen wir die Zeilen an anderer Stelle, so müßten sich logischerweise Enjambements ergeben.

Gefangen
im Traume träumend
Erfüllung,
lieg ich,
betrüg mich und
schlafe,
entschwunden dem Schlaf.

Auf dem Papier finden wir sie auch, nämlich in Zeile 1, 2 und 5, gleich mehrere also. Und dennoch, die Wirkung vor dem inneren Ohr ist eine völlig andere. Wir hören hier nichts mehr von der überspringenden Intonationskurve, es ergibt sich kein Spannungsbogen und eine Entladung auf eine Stelle, die dann unsere Aufmerksamkeit als Leser und Hörer auf sich zieht, scheint es auch nicht zu geben. Allenfalls in Zeile 6 bekommt man davon noch schwach etwas mit. Tatsächlich kommt es einem vor, als höre man vor lauter Enjambements das Enjambement nicht mehr.

Da ist etwas Wahres dran. Ich hatte ja weiter oben schon angesprochen, dass das Enjambement mit unserer Erwartungshaltung bricht. Wir erwarten eine Kadenz, die nicht kommt. Wenn es in einem Gedicht überwiegend Zeilenumbrüche gibt oder jede Phrase unterschiedlich lang ist, so dass man gar nicht mehr voraussagen kann, wann die nächste Phrasengrenze, sprich Kadenz, kommen müßte, baut sich dahingehend auch keine Erwartungshaltung auf und das Enjambement kann nicht mit ihr brechen. Es ist zwar auf dem Papier vorhanden, aber seine poetische Wirkung verpufft – ohne Kadenz kein Enjambement.

Wer also die Wirkung eines Enjambements innerhalb von freien Versen erzielen möchte, der muß sich erheblich mehr Gedanken darüber machen, wie das sprachliche Umfeld dieser Figur zu gestalten wäre, damit sie überhaupt wirkungsvoll ist. Und dies ist nur einer der Gründe dafür, dass der freie Vers, entgegen dem weit verbreiteten Irrglauben, eine Königsdisziplin der Dichtkunst ist.