Archiv für die Kategorie 'Sprache'

trotzdem – trotzdem

Sonntag, 14. September 2008

Wir saßen neulich bei einem Glas Rioja und Fischfilet am Mittagstisch, als mein Mann plötzlich verwundert bemerkte, dass man das Wörtchen „trotzdem“ einmal vorne und einmal hinten betonen kann. [Trotz-dem‘] es gestern regnete, ging ich spazieren. Es regnete, [trotz‘-dem] ging ich gestern spazieren. [Trotz‘-dem]? [Trotz-dem‘]? Seltsames Wort; ich grübelte. Müßte es nicht eigentlich trotz-des heißen? Trotz des gestrigen Regens ging ich spazieren! Obwohl es gestern regnete, ging ich spazieren. Es regnete, obwohl ich spazieren ging… Nein! das ist nicht sinnig.

Ich hatte mich im Zuge meiner Metrikbemühungen mit den Regeln der deutschen Wortbetonung befaßt und konnte mir demnach sehr gut erklären, warum es einmal [um‘-schrei-ben] und ein anderes mal [um-schrei‘-ben] heißt. Das sind nämlich verschiedene grammatische Phänomene und die Bedeutung ist auch jeweils eine andere. Denn das eine mal schreibt man etwas Existierendes neu und das andere mal sagt man etwas mit anderen Worten. Beim einen mal handelt es sich um ein Derivat des Verbes „schreiben“ mit dem betonten Präfix „um“, das sowohl synthetisch als auch analytisch auftreten kann: Ich schreibe den Roman um. Beim anderen mal handelt es sich um ein Adverb-Verb-Kompositum, das man nicht analytisch verwenden kann: Ich umschreibe es dir mit anderen Worten. (Ich schreibe es dir mit anderen Worten um, geht nicht.) Ähnlich ist es übrigens bei [ü‘-ber-set-zen] und [ü-ber-set‘-zen]. Man kann nämlich ans andere Ufer übersetzen oder einen englischen Roman ins Deutsche übersetzen.

Ich habe auch andere interessante Worte gefunden, bei denen der eigentlich feste Wortakzent von Derivat zu Derivat hüpft, obwohl es sich nicht um ein Fremdwort handelt: [miss-gön‘-nen], aber [Miss‘-gunst] und [wi-der-ru‘-fen], aber [Wi‘-der-ruf]. Auch hier ist klar, das eine ist ein Verb, das andere ein Substantiv. Aber trotzdem?

1. Trotzdem‘ es gestern regnete, ging ich spazieren.
2. Es regnete, trotz’dem ging ich gestern spazieren.
3. Es regnet, aber ich spaziere trotz’dem.
4. Trotz des Regens, ging ich gestern spazieren.

Es macht semantisch keinen großen Unterschied, ob ich [trotz-dem‘] oder [trotz‘-dem] sage. In den ersten beiden Beispielsätzen leiten beide trotzdems einen Nebensatz ein, an dessen Anfang sie stehen. Dennoch kann man im ersten Beispiel ein „obwohl“ einsetzen und im zweiten nicht, es sei denn man ändert die Satzordnung: Es regnete, obwohl ich gestern spazieren ging. Der Sinn ist nicht derselbe und besonders sinnvoll wird dieser Satz auch nicht, aber grammatikalisch ist er einwandfrei. „Obwohl“ ist, ähnlich wie „weil“ oder „dass“ eine Konjunktion, also könnte [trotz-dem‘] im ersten Beispiel auch eine sein.

Um was für eine Wortart handelt es sich aber beim zweiten Beispiel, um ein Adverb, eine Konjunktion? Vielleicht ist es ein Partikel, eine Präpositionen wie im vierten Beispiel wird es nicht sein. Wir kommen hier an die Grenzen der traditionellen Wortartenlehre. Der Umstand, dass die zweite Variante anders betont wird, läßt mich daran zweifeln, dass es sich um dieselbe Wortart handelt, auch wenn die Satzpositionen und Funktionen (am Anfang des Nebensatzes, den sie einleiten) dieselben zu sein scheinen.

Das [trotz‘-dem] im dritten Beispiel würde ich persönlich für ein Adverb halten. Als Adverb betrachtet der Duden Wörter wie „abends“ und „bald“, während er Wörter wie „sehr“ und „ziemlich“ für Partikel hält. Ich hätte auch letztere für Adverbien gehalten.

5. Ich komme bald. (Adverb)
6. Ich komme trotz’dem. (Adverb?)
7. Ich liebe ihn ziemlich. (Partikel?)
8. Ich liebe ihn trotz’dem. (Partikel?)

Ich würde das vorne betonte „trotzdem“ für ein Adverb halten, sowohl in Beispiel 2 als auch 3, denn man kann beide Varianten auch mit dem Wörtchen „bald“ um‘-schrei-ben, was ja ein duden-zertifiziertes Adverb ist.

9. Es wurde dunkel, bald ging ich heim.
10. Es wurde dunkel und ich ging bald heim.

Dass [trotz‘-dem] und [trotz-dem‘] unterschiedlich betont werden, könnte also daran liegen, dass es sich bei dem einen um ein Adverb, bei dem anderen um eine Konjunktion handelt und nur zufällig beide unflektierten Formen gleich aussehen. Wenn mir jetzt noch jemand den Unterschied zwischen Adverbien und Partikeln begreiflich machen könnte, würde der Knoten in meinem Kopf vielleicht platzen. Trotzdem‘ ich keine Ahnung habe, hilft mir das Nachdenken über solche Probleme trotz’dem. So ist das mit den linguistischen Sinnkrisen am Mittagstisch.

Deutsche Metrik – so funktioniert’s

Samstag, 10. Mai 2008

Immer wieder wollen User von mir wissen, wie man das Metrum von Gedichten bestimmt oder wie man selbst metrische Verse schreiben kann. Das ist eigentlich ganz einfach, wenn man erst einmal begriffen hat, was es mit der Metrik überhaupt auf sich hat. Metrisch ist eine (deutsch-)sprachliche1 Äußerung nämlich dann, wenn sie eine regelmäßige Abfolge von betonten und unbetonten Silben aufweist. Und wer den Rhythmus nicht sowieso schon im Blut hat, der kann sich leicht über die Theorie eine Brücke bauen. Wie das funktioniert, möchte ich in diesem Post erklären. Sieben praktische Übungen für Anfänger und Fortgeschrittene sollen dabei helfen. (mehr …)

Suchanfrage vom 08.05.08

Donnerstag, 08. Mai 2008

Bei Blicken in meine Blogstatistik sorgen die Suchanfragen, mit denen Leute auf meine Seite gefunden haben, immer für die meiste Erheiterung. Ab und an sind da aber auch interessante Fragen formuliert, zu denen ich mich einfach äußern muß. Wo, wenn nicht hier?

Die anonyme Suchanfrage des heutigen Tages lautet:

Wann hat man das erste Mal Namen gegeben?

Die Geschichte der Namensgebung ist vielleicht die Geschichte der Sprache überhaupt. Allen Dingen und Aspekten, die uns in der Welt umgeben und die wir wahrnehmen können, haben wir Namen gegeben, um uns mit anderen Geschöpfen unserer Art darüber auszutauschen. Ob wir einem Ding in der Welt (Baum, Liebe, Radfahren) oder uns gegenseitig (Katrin, Mausilein, Dr. Finkenkrug) einen Namen geben, unterscheidet sich im Vorgang eigentlich kaum. Beide Male ordnen wir einer Vorstellung oder einem Konzept in unserem Kopf ein willkürliches Lautbild (oder Schriftbild) zu und erzeugen damit im Kopf unseres Gegenüber eine ähnliche Vorstellung. Deshalb können wir uns über Baum und Katrin unterhalten, auch wenn weder Baum, noch Katrin anwesend sind.


Wikipedia: Im Englischen ist das Lautbild „tree“ der Vorstellung (Concept) ‚Baum‘ zugeordnet

Willkürlich sind diese Lautbilder deshalb, weil wir dem Konzept Baum oder Katrin auch einen völlig anderen Namen hätten geben können, z.B. tree oder arbre oder krchge. Aber innerhalb eines Sprachverbandes gibt es natürlich weitestgehend Einigkeit darüber, welche Namen wir den Konzepten geben, denn sonst könnten wir uns ja nicht verständigen. Die Linguisten sagen deshalb, sprachliche Symbole (also die Verbindung eines Lautbildes mit einem Konzept) sind arbiträr, aber zugleich konventionell.

Es ist also sehr wahrscheinlich, dass es Namen (für Dinge, Abstrakta, Personen, etc.) schon lange vor der Schrift, also bevor wir eine Sprache überhaupt historisch betrachten und untersuchen können, gegeben hat. Die ältesten Schriftzeugnisse stammen aus Sumer und sind ein bisschen älter als 5000 Jahre. Das Besondere an der sumerischen Sprache ist nicht nur, dass sie die älteste durch Schrift bezeugte Sprache ist, sondern auch, dass sie mit keiner anderen bekannten Sprache verwandt zu sein scheint. Für Dinge und Personen hatten die Sumerer Namen.

Mit dem Prozess der Namensgebung ist aber auch eine Entindividualisierung der Dinge in der Welt verbunden. Natürlich gleicht kein Baum im Wald dem anderen, trotzdem nennen wir sie alle Baum und können Gruppen und eine Mehrzahl bilden. Im linguistischen Gedankenkonstrukt einer Adamitischen Sprache (Sprache Gottes) wäre das nicht möglich, da jedes individuelle Ding seinen individuelllen Namen hätte. Die Überwindung der göttlichen Namensgebung steht mit der Legende der Babylonischen Sprachverwirrung in Zusammenhang – die Verwirrung hat kühl betrachtet jedoch den Vorteil der Abstraktion.

Letztlich bleibt zum Thema Namensgebung noch die Sapir-Whorf-Hypothese zu benennen, die davon ausgeht, dass Sprache (also eine gemeinschaftliche Konvention über Namensgebung) auch unsere Vorstellung von den benannten Dingen beeinflußt, wodurch Sprache und Denken in untrennbar enge Relation treten. Hast du schon mal probiert an etwas zu denken, ohne dafür Worte im Kopf zu formulieren oder Aussagen wie: „Ich würde meine Tochter nie Cindy nennen, ich kenne nur schreckliche Cindys!“, gehört?

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Suchanfrage vom 14.04.08

Montag, 14. April 2008

Bei Blicken in meine Blogstatistik sorgen die Suchanfragen, mit denen Leute auf meine Seite gefunden haben, immer für die meiste Erheiterung. Ab und an sind da aber auch interessante Fragen formuliert, zu denen ich mich einfach äußern muß. Wo, wenn nicht hier?

Die anonyme Suchanfrage des heutigen Tages lautet:

Wie ist das Metrum vom Erlkönig?

Das Metrum der Goethe-Ballade ist nicht homogen, weshalb es etwas schwierig zu bestimmen ist und zumindest nicht durch einen einzigen Musterbegriff gefaßt werden kann. Dazu die ersten beiden Verse:

Wer reitet so spät durch Nacht und Wind?
Es ist der Vater mit seinem Kind.

(Betonte Silben sind unterstrichen.)

Hier wird deutlich, dass die Zahl der zwischen den Hebungen befindlichen Senkungen zwischen 1 und 2 variiert. Die Analyse der Folgeverse zeigt, dass diese Variation nicht regelmäßig ist, sondern spontan auftritt. Ich würde das Metrum daher als ein heterogenes, überwiegend iambisches mit daktylischen Einschüben bezeichnen. Diese analytisch-trockene Erkenntnis macht aber erst dort Sinn, wo sie in Bezug zu der Wirkung gesetzt wird, die ein solches Metrum erzielt. Geradezu bildhaft ahmt es nämlich den holprigen, aufgeregten Galopp des Pferdes nach, auf dem Vater und Sohn durch die Nacht preschen!

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Die rhetorische Periode

Donnerstag, 27. März 2008

Die rhetorische Periode ist ein Ordnungsprinzip formaler Sprache, das meine Sicht auf den freien Vers verändert und geschärft hat. Die Ästhetik der Ausgewogenheit von Wiederholung und Variation, aber auch die Freiheit und Flexibilität individueller Musterbildung erzielen eine spezifische Wirkung und üben einen besonderen poetischen Reiz aus.

Die rhetorische Periode

Ich habe früher oft Texte kritisiert, die sich nur durch optische Zeilenumbrüche als Gedichte zu erkennen gaben, sonst aber formal der Prosa entsprachen. Die Kritisierten wandten ein, dass es sich doch um freie Verse handle, aber ich hatte daran stets meine Zweifel. Mit dem Begriff „Vers“ verband ich einen Grad an Formalisierung, der über Prosa hinausgeht; „frei“ bedeutete für mich nur, dass die sprachliche Formalisierung nicht nach dem einheitsstiftenden metrischen Prinzip funktioniert, sondern nach einem fein ausgewogenen Spiel von Wiederholung und Variation, von Dynamik und Pause, Spannung und Entspannung, Regelaufbau und Regelbruch, etc. pp.

In Manfred Fuhrmanns „Antiker Rhetorik“ (im übrigen eine insgesamt sehr empfehlenswerte Lektüre) stieß ich schon vor einigen Jahren auf das formale Prinzip der rhetorischen Periode, das ich für einen wichtigen Aspekt zum Verständnis des freien Verses halte. Das trifft natürlich auch auf den metrischen Vers zu, denn kein zeitliches Ereignis in ihm ist einheitlicher, als die wiederholte Abfolge von Hebung und Senkung. In der rhetorischen Periode haben wir es aber mit syntaktischen Einheiten zu tun, die sich als Kola oder Kommata in einer sehr sorgsam gegliederten Binnenstruktur präsentieren. Zu solchen Kola oder Kommata finden sich Worte, Phrasen und Sätze. Jeder Linguistikstudent wird die hierarchischen Stemma kennen, die sich aus einer Satzanalyse ergeben. Bei einer rhetorischen Periode liegt eine wie auch immer geartete Form von Symmetrie innerhalb dieses Stemmas vor.

Ein Beispiel des Fachbereichs Linguistik der Uni Potsdam:

  1. Wie lange noch, Catilina, willst du unsere Geduld missbrauchen? Willst du uns mit deiner Tollheit noch lange verhöhnen? Merkst du nicht, dass deine Dreistigkeit vermessen ist?
  2. Wie lange noch, Catilina, willst du unsere Geduld missbrauchen? Bis wann soll deine Tollheit uns noch verhöhnen? Wie weit wird zügellose Dreistigkeit sich noch vermessen?

Inhaltlich haben beide Texte gleichen Gehalt. Formal unterscheiden sie sich aber erheblich voneinander, wodurch sie eine völlig andere Wirkung entfalten. Sehr deutlich zeigt der zweite Text ein Ordnungsprinzip, das auf der Parallelisierung der syntaktischen Einheiten beruht, ergo der rhetorischen Periode entspricht. Jeder der drei Sätze im zweiten Text ist grammatisch gleich oder sehr ähnlich gebaut. Es handelt sich um drei Fragesätze, die zuerst eine adverbiale Angabe, dann das finite Verb, dann das Subjekt, dann das Akkusativobjekt und zu letzt ein infinites Verb anführen.

adverbiale Angabe finites Verb Subjekt Akkusativobjekt infinites Verb
Wie lange noch willst du unsere Geduld mißbrauchen?
Bis wann soll deine Tollheit uns verhöhnen?
Wie weit wird zügellose Dreistigkeit sich vermessen?

Das Prinzip der Wiederholung ist hier also die Parallelisierung der Phrasen. Variation findet sich im ersten Satz durch die eingeschobene Anrede „Catilina“, in nachfolgenden durch das eingeschobene Partikel „noch“, im letzten durch die Rückbezüglichkeit des Objektes „sich“ und in vielen weiteren, kleinen Details. Doch die Parallelisierung ist nur eine Möglichkeit der syntaktischen Ordnung, weitere könnten die Reihung (a1, a2, a3), der Chiasmus (a1 b1 a2 b2), der Krebs und Spiegelung (a1 b1 b2 a2), die Mehrung (a ab abc), die Identität (a, a, a) und dergleichen mehr sein. Die Einheiten können Phrasen, wie Wortgruppen sein, können einzelnde Wörter betreffen (z.B. in der Aufzählung), können Wortarten betreffen oder ganze Sätze.

Die rhetorische Periode präsentiert sich also formal geschlossen, in ihrer Ordnung aber in sich sehr variabel und flexibel. Pausen entstehen an Nahtstellen, aber die Länge der Pausen ist unterschiedlich, ebenso schwankt die Betonungsstärke der betonungstragenden Elemente. Sie ist reizvoll locker gebunden, wirkt aber weder willkürlich, noch wie ein stechschrittiger Marsch. Die Schwierigkeit besteht nicht so sehr in der grammatischen Sachkenntnis (die kann man sich zur Not anlesen, wenn man sie nicht intuitiv mitbringt), sondern in der Sensibilität für Maß und Gewichtung von Einheiten und daraus resultierenden Klangphänomenen, wie Pausen und Betonungen. Die Ästhetik zerbricht hier, wie überall, an einem zu hohen Maß an Wiederholung (daraus folgt Langeweile), ebenso wie an einem zu hohen Maß an Variation (daraus folgt Unordnung).

Von der rhetorischen Periode zum freien Vers

Man kann dieses freie Ordnungsprinzip der rhetorischen Periode über syntaktische Aspekte hinaus weiterspinnen und z.B. auch den Bereich der Phonetik, Semantik und Morphologie mit einbeziehen. Sogar Annäherungen an metrische Prinzipien durch Musterbildung in Silbenzahlen und -längen/Betonungen ist denkbar. Als Beispiel dient der erste Absatz von Friederike Mayröckers „Ode an einen Ort“:

Heimstätte meiner Träume: Hütte Thron Türme Gebälk
Glocken Taubenschwarm vielflügelig verbrieft
geschnäbelt ins graue Licht
ätzend den Trauerhimmel
mit Botschaft von Dir zu mir:

Obwohl dieses Gedicht nicht metrisch ist, zeigt schon die erste Zeile ein deutlich höheres Maß an formaler Gebundenheit als jede Prosa. „Heimstätte meiner Träume: Hütte Thron Türme Gebälk“ – Hier wird vorallem viel mit dem Reim gearbeitet, die syntaktische Figur schließt sich im Zweiten Teil der Zeile dieser Reimschematik an. Man beachte Zunächst die Häufung an /t/ /ä/ /äu/ und /ü/. Dann folgt die Sequenz „Träume – Hütte – Thron – Türme – Gebälk. Dies ist syntaktisch gesehen eine Reihung, Aufzählung, lautlich ist sie am /o/ von Thron gespiegelt: ä-ü-o-ü-ä. Semantisch wird der Traum zur Spiegelachse, denn die vier folgenden Begriffe sind Lokalitäten (Orte), ebenso wie die „Heimstätte“ am Anfang der Zeile. Es finden sich weitere Klangparallelen zwischen /ei/ und /äu/ und zwischen /äu/ und /ü/. Auch das /h/ wird exponiert. Das harte Gebälk am Schluß sprengt diese Klangkaskade schroff auf, nicht nur durch seinen stimmhaften, gutturalen Anfang /g/, sondern auch und vorallem sein gutturales und stimmloses Ende /k/ (harte Kadenz). Wir haben es hier mit einem Paradebeispiel dür den freien Vers zu tun, nicht metrisch, nicht prosaisch, sondern ein Ding in der Mitte.

Eine solche formale Strukturierung von Sprache macht den grafischen Zeilenumbruch als Kennzeichnung poetischer Sprache meines Erachtens überflüssig, da die Sprache selbst schon ausreichend poetisch ist, um nicht als Prosa verkannt zu werden (was nicht heißt, dass der Zeilenumbruch keine berechtigte Funktion hätte). Aber hier zeigt sich, warum auch die im Fließtext gedruckten „Petites poèmes en prose“ von Baudelaire auch ohne optische Gliederung durch Zeilenumbrüche immer noch als verses libres zu erkennen sind.

Ich habe mich selbst nie an den vers libre gewagt, weil ich ihn in der Tat für ein Wagnis, ein höchst anspruchsvolles Unterfangen halte. Aber ich habe sehr schöne freie Verse gelesen und mich in Prosatexten schrittweise in der freien formalen Musterbildung probiert. Der freie Vers ist und bleibt ein äußerst interessantes sprachliches Phänomen; die rhetorische Periode hat mir geholfen, mich dafür zu sensibilisieren.

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Quellen:

  • Manfred Fuhrmann, „Die antike Rhetorik“, Artemis & Winkler, 19954, S. 139f
  • Mayröcker zitiert aus: Karl Otto Conrady, „Das grosse deutsche Gedichtbuch“, Athenäum Verlag, 1977

Suchanfrage vom 24.03.08

Montag, 24. März 2008

Bei Blicken in meine Blogstatistik sorgen die Suchanfragen, mit denen Leute auf meine Seite gefunden haben, immer für die meiste Erheiterung. Ab und an sind da aber auch interessante Fragen formuliert, zu denen ich mich einfach äußern muß. Wo, wenn nicht hier?

Die anonyme Suchanfrage des heutigen Tages lautet:

Warum verändert sich Sprache?

Sprachwandel hat innere und äußere Faktoren. Zu den äußeren Faktoren zählt z.B. die Vermischung von Volksstämmen durch Ein- und Auswanderung, wofür das Türkendeutsch ein schönes Beispiel ist. Auch die Festlegung akademischer Standards kann Sprache beeinflussen, jüngst passiert durch die Rechtschreibreform der Rot-Grünen-Koalition. Ebenso beeinflussen Medienwechsel wie der Buchdruck oder der Siegeszug des Internets die Sprache, aber auch Epidemien und die damit einhergehende Ausrottung von Sprechergruppen können Sprache verändern. Zu den internen Faktoren zählen Lautwandelerscheinungen, so sagt man im Süden Deutschlands z.B. eher Apfel und nicht wie im Norden Appel. Aber auch lexikalische Veränderungen (also Änderungen in der Bedeutung von Wörtern) sind bekannt, so hatte das englische „gay“ früher eine ganz unverfängliche Bedeutung. Auch die Morphologie und Syntax sind Veränderungen unterworfen. Sebastian Sick vermißt z.B. zunehmend den Genitiv in der deutschen Sprache. Es gibt also eine ganze Reihe von Gründen für die Veränderung von Sprache. Dass sie sich verändert ist natürlich und zeugt von ihrer Lebendigkeit. (Mehr dazu unter Lebendige Sprache verändert sich)

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Warum heißt Ostern eigentlich Ostern?

Sonntag, 23. März 2008

Ich muß ja zugeben, weder besonders religiös, noch besonders feiertagsgeil zu sein, weshalb mir Ostern eigentlich wurscht ist. Aber als ich gerade so saß und grübelte, schoß mir diese Frage in den Kopf. Ostern ist doch ein ganz schön komisches Wort dafür, dass einer gekreuzigt wird. Gut, klar, eigentlich handelt es sich ursprünglich um ein heidnisches Fest zum Frühlingsäquinoktium, ebenso wie Weihnachten eigentlich die Wintersonnenwende gefeiert wurde. Aber die Weihnacht ist eben auch nach der geweihten Geburtsnacht Jesu Christi benannt.

Die Wikipedia verrät, dass sich außer mir schon ein paar andere Leute diese Frage gestellt haben und dass zwar sinnvolle Lösungen gefunden, aber nie bewiesen werden konnten. So gehen die einen Thesen eher auf die heidnischen Bräuche, die anderen eher auf die christlichen ein. Jakob Grimm nahm z.B. an, dass es eine germanische Götting namens Ostara (ae. Eostrae) gab, die ungefähr gleichbedeutend mit der griechischen Göttin, Eos, war. Denn Ostern war der Name für ein heidnisches Lichtfest und Eos war die Göttin der Morgenröte. Der mittelalterliche Theologe, Honorius von Autun (fl. 12. Jh.), leitete Ostern von Osten ab, der Himmelsrichtung, in der die Sonne aufgeht, was ein Symbol für die Auferstehung ist. Auch wurde die österliche Taufe traditionell im Morgengrauen durchgeführt. Die Nähe von „easter“ und „east“ würde zu dieser Erklärung gut passen. Eine andere Erklärung schlägt vor, dass eher die weißen Taufkleider ausschlaggebend für die benennung der Osterwoche als albae paschales waren und dass das ahd. Wort für alba „eostarum“ war. Ebenfalls auf die Taufe spielt die These des Namensforschers Jürgen Udolph an, der in diversen nordgermanischen Sprache den Wortstamm ausa („mit Wasser begießen“), bzw. austr („gießen“) ausgemacht haben will.

Na ja, so kann ich vermutlich also auch nicht klären, warum Ostern Ostern heißt. Aber als Mediaevist sympathisiere ich natürlich mit Honorius, zumal seine die älteste handfeste Erklärung ist. Habt ihr andere Thesen oder Ideen? Dann her damit!

Précis: Sprechhandlung und Sprachwerk; Sprechakt und Sprachgebilde

Montag, 17. März 2008

Précis sind kurze Zusammenfassungen der wichtigsten Thesen und Argumente wissenschaftlicher Fachaufsätze. Die meisten schrieb ich im Grundstudium zu sprachtheoretischen Texten.

Diesmal bespreche ich wiederum einen Auszug aus Bühlers „Sprachtheorie“, diesmal den Abschnitt „Sprechhandlung und Sprachwerk; Sprechakt und Sprachgebilde“, der mich vor allem deshalb beeindruckte, weil darin die Auffassung von Sprachgebilden als Werke eines zielgerichtet formenden Sprechers etabliert wird; ein Umstand, der mein eigenes Dichten stark beeinflußt hat.

Sprechhandlung und Sprachwerk; Sprechakt und Sprachgebilde ~ Karl Bühler

Im Abschnitt „Sprechhandlung und Sprachwerk; Sprechakt und Sprachgebilde“ seiner „Sprachtheorie“ klärt Bühler den Inhalt und die Bedeutung der vier genannten Termini. Er beginnt, indem er darauf hinweist, dass jedes konkrete Sprechen nicht nur in Handlungen eingebunden, sondern auch selbst Handlung sei, da es auf ein Ziel hin gesteuert würde und alle zielgesteuerten Tätigkeiten des Menschen Handlungen seien.
So beschreibt er zunächst die Sprachhandlung und das Sprachwerk, die in ihrer Konstitution beide Handlungen seien, sich jedoch dadurch unterschieden, dass sie unterschiedliche Ziele anstreben. Zielgesteuertes Sprechen entstünde, „wo das in einer Konzeption vorweggenommene Resultat des Tuns schon prospektiv die Betätigung am Material zu steuern beginnt und wo dann schließlich das Tun nicht mehr zur Ruhe kommt, bevor das Werk vollendet ist.“ (p.57, unten). Somit steht die Sprechhandlung unter dem Merkmal, dass das Werk (die empraktische Rede) dann vollendet ist, wenn es die Aufgabe, das praktische Problem der Situation zu lösen, erfüllt hat. Das Sprachwerk entsteht jedoch, wo ein Sprecher schaffend an der adäquaten sprachlichen Fassung eines gegebenen Stoffs arbeitet.
Die Sprechhandlung sei, laut Bühler, eingebunden in die aktuelle Sprechsituation der Sprecher, das Sprachwerk jedoch nicht. Letzteres „will entbunden aus dem Standort im individuellen Leben und Erleben seines Erzeugers betrachtet sein.“ (p. 58, oben). Es sei ein Sprachprodukt, welches der aktuellen Sprechsituation enthoben ist und selbstständig/autonom existiert und würde auf seine Entbindbarkeit aus der individuellen praktischen Kreszenz hin vom Sprecher gestaltet. Im Falle des hochgeübten kultivierten Sprechens flössen beide Sprecharten jedoch z.T. untrennbar ineinander.

Weiterhin sagt Bühler, dass hervorragende Sprachwerke der Forschung in einmaligen Zügen von besonderer Qualität bedeutsam seien, wobei jedoch Sprachkunstwerke der Lyrik, Dramatik oder Epik gemeint sind. Sinnvoll erscheint ihm auch die wissenschaftliche Betrachtung der Sprachwerke von bspw. Kindern, da auch für die Erfassung des Einzelnen geeignete Kategorien entwickelt werden müssten.

Für eine Theorie der Sprechhandlung hat die Psychologie einige Grundlagen geschaffen. So wird der Begriff „Handlung“ gemein als historischer Begriff betrachtet, was heißt, dass eine Handlung sich nicht punktuell, sondern im Verlauf vollzieht. Bühler selbst sieht in der Handlung zwei Determinationsquellen, das Bedürfnis und die Gelegenheit, wodurch sich das Aktionsfeld einer Handlung in zwei präsente Bestimmungsmomente der inneren und äußeren Situation gliedert. Die Einsicht der Duplizität des Aktionsfeldes und der nur historischen Fassbarkeit einer Handlung sieht Bühler als besonders wichtig an. Dahingehend sei die Historie einer Sprechhandlung vom ersten Auftauchen der Idee bis zur eigentlichen Handlung eine Aktgeschichte („Akt“/“agieren“ von lat. agere, actum). Die Diskussion, ob das Gehirn dabei analytische (ausgliedernde) oder synthetische (aufbauende) Arbeit leistet, sei für die Untersuchung der Aktgeschichte heute nicht mehr relevant.

Wie sich aus der Untersuchung des konkreten Sprechens („Parole“) eine Wissenschaft der Sprache („Langue“) allgemein ergeben könnte, zeigt der logische Charakter der Sprachgebilde (Sinn und Lautzeichen), den Bühler aufzeigt. So sei eine wichtige Erkenntnis der Sprachwissenschaft, dass Sprachgebilde als Produkt der Sprechhandlung oder als Sprachwerk aus den Umständen der konkreten Sprechsituation ablösbar sind. Die schematischen Relationen von Sinn und Lautzeichen würden den Gegenstand „Sprache“ konstituieren. Die Sprachgebilde selbst hätten intersubjektiven Charakter. Somit sei die Sprache als „Langue“ unabhängig vom einzelnen Sprecher und bestünde nur kraft einer Art Konvention zwischen den Gliedern der Sprachgemeinschaft. Darin begründet sich auch die These von der Idealität des Gegenstandes „Sprache“, der innerhalb der konkreten Sprechsituation so nie in Erscheinung treten wird, sondern nur bruchstückhaft in den Sprachgebilden, die ihn konstituieren, existent ist.

Juni 2004

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Quelle: Bühler, K. Sprachtheorie. (Auszüge), 1934, in: Hoffmann, L. (Hrsg.) Sprachwissenschaft. Ein Reader. De Gruyter, Berlin/NewYork, 1996

Künstler gleich Gott

Freitag, 07. März 2008

„Künstler gleich Gott. Literarische Emanzipation bei Frauenlob“ ist die kurze Erläuterung einer These, die ich in meiner mündlichen Zwischenprüfung in Altgermanistik zur Disposition stellte. Für mich war sie vor allem deshalb spannend, weil es hier um ein neues Künstlerverständnis, nämlich den Dichter als Handwerker, geht. Da die Prüfung nur 20 Minuten dauerte und noch vier weitere Thesen zu besprechen waren, reichte die Zeit nicht für eine Vertiefung meiner Ausführungen. Aber es wäre schade, wenn ich mir all diese Gedanken gemacht hätte, um sie dann für mich zu behalten. Deshalb nun hier die Argumentation.

Künstler gleich Gott.
Literarische Emanzipation bei Frauenlob

„Frauenlobs Marienleich offenbart eine literarisch-künstlerische Emanzipation, die einhergeht mit einer individualisierenden, selbstbewußten Sichtweise auf das Verhältnis Mensch-Gott.“

Nachdem ich mich aufgrund meiner Zwischenprüfung eingehender mit Heinrich Frauenlob (= Heinrich von Meißen) und seinem Marienleich befaßt hatte, war ich zu der Auffassung gekommen, dass darin eine literarische Emanzipation zum Ausdruck kommt, in der sich ein neues Selbstverständnis des Dichters als schöpfendem Künstler offenbart.

Wir befinden uns mit dem Marienleich in einer Zeit um 1300. Aufgrund von Anspielungen in diversen Schmähschriften, die Frauenlob als Kind oder junges Meisterlein bezeichnen, nimmt man an, dass es sich um ein Jugend- oder Frühwerk des deutschen Dichter-Komponisten handelt. Das auffälligste und charakteristischste Merkmal, das wohl auch die zahlreichen Kritiker auf den Plan rief, ist die manirierte Rhetorik des Textes. Sie äußert sich in einer Fülle von schwer zugänglichen Bildern, Stilfiguren und Tropen und in diesem Falle auch in der Wahl einer komplexen und hochanspruchsvollen Bauform. Hier ist ein kleiner Auszug aus dem um die 500 Verse umfassenden Poem. Maria spricht:

ich binz, ein acker, der den weize zîtic brâhte her,
dâ mit man spîset sich in gotes tougen;
ich drasch, ich muol, ich buoc lind unt niht harte,
wan ich mit olei ez bestreich:
des bleip sîn biz sô suoze weich;
ich binz, der tou, dem nie entweich
diu gotheit, sît got in mich sleich.
mîn schar gar klâr var.
er got, si got, ich got: daz ich vor niemen spar.

(Verse 12, 25-33)

Dieser Sprachstil wird in der Literaturforschung „geblümter Stil“ genannt und er entspricht ungefähr dem hohen Stil der lateinischen Oratores, der in Lob- und Festreden gepflegt wurde. Hier finden sich linguistische Spitzfindigkeiten wie Genitivattributionen, Spiegelsymmetrie syntaktischer Kola, Parallelführungen oder seltene Wortwahl. Nun ist im gesamten Mittelalter Latein die Bildungssprache, also die Sprache der Bildungselite, die im Gegensatz zur Volkssprache nicht jedem zugänglich war. Durch die Ausschmückung der Volkssprache, wie sie im Marienleich offenbar ist, und ihre Anpassung an die lateinische Sprachästhetik passiert zweierlei: Auf der einen Seite kommt es zu einer Hermetik, da Frauenlobs Werke so nur noch einigen wenigen, speziell gebildeten Menschen zugänglich sind. Auf der anderen Seite kommt es aber auch zu einer Aufwertung der Volkssprache, wodurch eine Elite kultiviert wird, die die Volkssprache als Literatursprache kennen und schätzen lernt.

Dies birgt ein emanzipatorisches Moment, das in den Literaturen gesamt Mitteleuropas zu beobachten ist. Frauenlobs florentiner Zeitgenosse Dante Alighieri verfaßte italienische, von musikalischer Vertonung losgelöste Sonette und schrieb eine Abhandlung, „De vulgari eloquentia“, über die Angemessenheit der Volkssprachen (wohlgemerkt auf Latein). Meister Eckhart, ein deutscher Mystiker derselben Zeit, predigte in der Volkssprache, um auch dem einfachen Volk die Gottesmysterien verständlich zu machen. Ein Nachfolger Frauenlobs, der französische Dichter-Komponist Guillaume de Machaut, veranlaßte wohl die Sammlung und Konservierung seiner volkssprachigen Dichtungen. Dessen Schüler Eustache Deschamps erspinnt die Gesellschaft der boehmen Fumeurs und seine Zeitgenossin Christine de Pizan verfaßt eine Schrift in der sie die Darstellung der Rolle der Frau im berühmten „Roman de la Rose“ kritisiert. Die Volkssprache, sei es das Italienische, Französische, Englische oder Deutsche, wird mit der Lateinischen Sprache auf Augenhöhe gehoben und damit salonfähig gemacht.

In diesem Zusammenhang scheint auch der Dichter ein neues Selbstverständnis zu entwickeln. Konrad von Würzburg, ein Vorbild Frauenlobs, schrieb um 1250 die „Goldene Schmiede“, ein fast 2000 Verse umfassendes Mariengedicht von besonderem Reichtum. Obwohl die Gottesmutter mit Worten nicht hinlänglich gelobt werden könne, wie der Dichter anmerkt, wolle er in der Schmiede seines Herzens ein Loblied auf sie schmieden. Obwohl die „Goldene Schmiede“ ein Bravourstück ist, hält es der Dichter für nötig, seinen Namen in den Text einzuflechten, um auf dessen gekonnte Fertigung durch einen befähigten Künstler hinzuweisen. Eine solche Etikette braucht Frauenlobs Marienleich nicht mehr. Allein dessen Maniriertheit reicht aus, um jeden Zweifel an seiner Kunstfertigkeit auszuräumen. Beide unterstreichen ihre Künstlerauffassung aber durch bewußt gewählte Metaphern, die den Dichter als Handwerker darstellen. Während er bei Konrad Schmied ist, ist er in einem Spruch Frauenlobs Zimmermann:

Ja tun ich als ein wercman, der sin winkelmaz
ane unterlaz
zu sinen werken richtet,
uz der fuge tichtet
die höhe und lenge: wit und breit,   alse ist ez geschichtet;
und swenne er hat daz winkelrecht    nach sinem willen gezirket,
darnach er danne wirket, als man wirken kann.

(V.13.1-7)

Bei beiden tritt hier das Moment des „Wirkens“ zutage. In der Darstellung Marias geht Frauenlob aber weiter als Konrad. Nicht ihre Vermittlerposition zwischen Mensch und Gott ist zentrales Thema, sondern ihre Stellung als Zwitterpersönlichkeit zwischen Göttlichem und Menschlichem. Immer wieder wird im Zirkelschluß die von Gott geschaffene Maria in ihrer Eigenschaft als Gottesgebährerin stilisiert. Durch Maria ist Gott Mensch geworden. Dieser Schöpfungsakt scheint sie selbst gottgleich zu machen, was im Text durch ihre in exakter mathematischer Mitte positionierte Äußerung „ich got“ auch explizit geäußert wird.

Diese Darstellung Marias offenbart eine völlig neue Sichtweise auf das Verhältnis Mensch-Gott, das nicht mehr nur von der Menschwerdung Gottes, sondern auf einmal auch von der Gottwerdung des Menschen ausgeht. Diese vollzieht sich durch den Schöpfungsakt, der schöpfende Mensch rückt in die Nähe Gottes. Als in besonderer Weise schöpfender Mensch gilt sowohl Konrad als auch Frauenlob der wirkende Dichter. In seiner Meisterschaft ähnelt der dem höchsten Meister, dem schöpfenden Gott. Jahre später werden sich die Meistersinger an diesem Künstlerideal orientieren und sich zu Hauf auf Frauenlob, den Gründer der ersten Sängerschule, berufen.

März 2008
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Quelle: Barbara Newman, Frauenlob’s Song of Songs. A Medieval German Poet and His Masterpiece, Penn State University Press, 2007

Lebenszeichen mit Dodekakophonie und neuem Grundrecht

Mittwoch, 05. März 2008

Nachdem Leute nun schon anfangen, sinnfreie Kommentare unter meine Artikel zu posten, um auf ihre Heimseiten hinzuweisen, muß ich mal wieder ein Lebenszeichen von mir geben. Nein, ich bin nicht tot, ich hatte heute nur eine mündliche Prüfung und den letzten Monat mit der Vorbereitung verbracht. Das Gute daran ist, dass ich neue und spannende Themen für poetikrelevante Artikel gesammelt habe, die ich nun nach und nach hier veröffentlichen werde.

Ich habe zum Beispiel das Wort Kryptopolyphonie kennengelernt, dass außer in der Phonie nicht viel mit Dodekakophonie zu tun hat. Dodekakophonie ist allerdings eine Empfehlung, die ich hier schon lange aussprechen wollte. Der Berliner Entertainer Bodo Wartke erklärt auf sehr anhörliche Weise, was Dodekakophonie ist, um sie der Welt etwas näher zu bringen.

Auf Bodo Wartke haben mich die Berliner Clubnerds vom CCC aufmerksam gemacht, die sich über „PCdenzfall“ freuten. Aber es hat sich herausgestellt, dass Bodo Wartke mit seinen unkonventionellen Reimen und seinem Sprachwitz auch für Poetikbegeisterte durchaus unterhaltsam ist.

Ein anderer erfreulicher Fall, der bestimmt schon allen bekannt ist, ist das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom letzten Mittwoch, bei dem auch ein neues Grundrecht, getauft „Grundrecht auf digitale Intimsphäre„, formuliert wurde. Wir erinnern uns: Im vergangenen Oktober hatte Andreas ja ein Stelldichein mit den wachen Richtern vom Bundesverfassungsgericht, um als sachverständige Auskunftsperson über den sogenannten Bundestrojaner aufzuklären. Und während man bei den Expertenanhörungen im Bundestag immer geflissentlich ignoriert wird, nehmen einen die Bundesverfassungsrichter offenbar ernst. Sie erkannten jedenfalls, dass die Festplatte für nicht wenige Bürger heutzutage zu einem ausgelagerten Gehirn geworden ist und dass der Staat kein Recht hat, dort heimlich rumzuspionieren. Ich kann jetzt jedenfalls meinen Ordner „Bombenbauanleitungen“ wieder in Notizen umbenennen, weil ich es nicht mehr als meine Bürgerpflicht erachte, ihn BND-tauglich navigierbar zu gestalten.